Print – Mosaikroman

Maja, die verlorene Löwin sucht ihre Stimme – Mes Vacances

Flink klettere ich den Felsen hinauf. Vor mir hangelt Jule behände wie ein Äffchen. Gleißend reflektiert das Licht von den weißen Felsen. Ich kneife die Augen zusammen. Die Steine unter meinen Füßen und Händen brennen. Als ich oben auf dem Felsen ankomme, spüre ich den Schweiß auf meiner Haut. Ich stelle mich auf einen Vorsprung, halte kurz die Luft an, dann springe ich. Dabei stoße ich einen kleinen Schrei aus. Ich spüre ein Kribbeln im Magen und tauche tief in das smaragdgrüne Wasser des Felsbeckens ein. Als ich auftauche, läuft es mir in den Mund. Es schmeckt nach Sonnencreme, Haarshampoo und dem Salz meiner Haut. Ich atme die schwere, würzige Luft ein, in der ich einen Hauch Lavendel ausmache. Die Kinder, die hinter mir mit einer großen Fontäne ins Wasser krachen, kreischen begeistert. Sommerferien!

https://youtu.be/RB1azXQzStg

Meine Cousine und ich schwimmen den ganzen Tag in den Felsbecken der Schlucht. Zahllose französische Familien ziehen vormittags in fröhlichen Karawanen los. Sie sind bunt beladen mit Sonnenschirmen, Picknicktaschen und Handtüchern. An den unteren Felsbecken findet sich mittags kein Platz mehr, nicht mal für ein Handtuch. Jule und ich klettern weiter hinauf, dort ist es leerer. Ganz oben sind wir allein. Die Familien schaffen es mit ihrer Ausrüstung nicht bis dorthin. In der Mittagshitze, fällt uns das Atmen beim Klettern schwer. Doch das Kribbeln im Bauch beim Springen, das Glücksgefühl, wenn wir unten ankommen und das erfrischende Nass, berauschen uns. Wir klettern immer wieder hoch. Es ist ein Verlangen, zu springen. Bis wir völlig erschöpft sind. Dann legen wir uns überglücklich auf die heißen Steine und ruhen uns aus.

Wir genießen es, dass hoch oben niemand außer uns ist. Wir sind stolz darauf, dass wir waghalsiger von den Felsen springen, als die gleichaltrigen Jungs an den unteren Becken. Ab und zu springen wir nur deshalb dort unten, um ihre verdutzten Gesichter zu sehen. Wir fühlen uns wie furchtlose Abenteuer.


Jules Eltern, meine Tante und mein Onkel, freuen sich, dass ich sie begleite. Sie nehmen mich seit meinem zwölften Lebensjahr mit in die Sommerferien. Jules ältere Geschwister kommen nicht mehr mit. Sie machen alleine Urlaub mit den Pfadfindern oder fahren ins Sportcamp. Ich bin Klassenbeste und gleichaltrigen Kindern weit voraus. Jules Eltern wünschen sich, dass ihre Tochter so wäre wie ich, aber sich wenigstens für Bücher interessiert. Diese Ferien verbringen wir drei Wochen in einem kleinen französischen Dorf. Meine Tante will ihre kreative Seite ausleben, sie hat einen Töpferkurs gebucht. Wir machen einen Ausflug nach Avignon und besichtigen eine Ausstellung von Auguste Rodin. Ich bin wahnsinnig ergriffen. Seine Skulpturen sehen lebendig aus in ihrer Lebensgröße, aber das ist es nicht. Ich kann ihre Gefühle spüren. Beim Anblick des Le Penseur fühle ich dessen grüblerische Qual. Sie steht so sehr im Kontrast zu seinem starken, männlichen Körper, dass ich spüre, dass er für mentale Arbeit nicht geschaffen ist. Eine erotische Anziehungskraft hat der männliche Körper noch nicht. Das ist ein Mann. Ich bin 14 Jahre alt und stehe auf Jungs. Der Denker wirkt depressiv auf mich. Ich empfinde das als tröstlich, ich bin also nicht die einzige. Ich erlebte nie zuvor beim Anblick einer Statue den Eindruck, dass diese Gefühle haben. Bei Danaid rührt mich ihre Verletzlichkeit. Ich glaube ihre Anmut zu spüren und ihre Hingabe. Gleichzeitig fühle ich eine unendliche Verlorenheit. Ich bin selbst unsterblich verliebt und fühle mich angesichts der Ausweglosigkeit verloren. Er ist älter und will nach dem Abitur zum Studieren in eine Stadt sieben Autostunden entfernt ziehen. Außerdem macht es nicht den Anschein, er könnte in mich verliebt sein… Rodins Skulpturen drücken für mich aber noch mehr aus. Bei Le main de dieu spüre ich es am deutlichsten. Ich vermag es zunächst nicht zu fassen. Es ist ein Funke, der auf mich überspringt. Dieser lässt meine Seele strahlen. Ich spüre eine ungeheure Kraft von ihm ausgehend. Er erfüllt mich ganz. Jule lacht. Ihre Eltern heben die Augenbrauen. Ich spreche nicht wieder darüber.
Wir bummeln nach dem Museumsbesuch durch die Stadt. Es findet gerade das Festival d’Avignon statt, ein Theater-, Tanz- und Gesangsfestival. Ich bin berauscht und weiß gar nicht wohin ich zuerst schauen soll. Ich habe so etwas noch nie gesehen: Pantomime laufen auf Stelzen, weit in den blauen Sommerhimmel ragend, durch die Stadt. Straßenkünstler malen mit Kreiden Gemälde von Vincent van Gogh, Gustav Klimt und Claude Monet. Musikanten spielen Mozarts Kleine Nachtmusik. Eine Gruppe farbiger Franzosen in bunten Kostümen trommelt und tanzt. An Ständen bieten Menschen Kunsthandwerk feil: geklöppelte Tischdeckchen, Töpferware, Aquarellbilder, Silberschmuck, handgeschöpftes Papier… Es gibt ein wunderschönes, altes, hölzernes Kettenkarussell, damit wollen Jule und ich unbedingt fahren! Wir drehen eine Runde, dann noch eine und können nicht mehr aufhören.

Wir fliegen nebeneinander in den dämmrigen Abendhimmel, die ersten Sterne leuchten, es ist warm und riecht herrlich nach frisch gebrannten Mandeln. Wir halten uns an den Händen und fühlen uns glücklich und frei. Ferien!

Wir wohnen in einem alten, gelbgestrichenen Haus, dessen Fensterläden blau angemalt sind. Davor blühen pinke Rosen und lila Lavendel in Terracottatöpfen. Das Haus ist hoch, schmal und ein wenig schief. Ich bleibe andächtig mit meinem Koffer in der Hand davor stehen und kann mich nicht sattsehen. „Jule, das ist so romantisch, oder?“ bringe ich seufzend hervor. Meine Cousine ist schon nach drinnen gestürmt. Sie brüllt mir zu: „Annie, jetzt mach endlich, wir wollen unser Zimmer doch vor Mama und Papa aussuchen!“ Ich reiße mich los und gehe hinein. Der Raum ist winzig. In der Mitte steht ein großer, alter Tisch, drumherum Stühle, die Wände sind weiß getüncht, das wars. Ich sehe einen Durchbruch zur Küche. Eine Steintreppe windet sich hinauf, von dort schreit Jule: „Mama und Papa wollen das Doppeltbett, wir sollen das Zimmer mit den Einzelbetten bekommen. Das ist mir recht, wir haben einen Deckenventilator und sooooo romantische Moskitonetze über unseren Betten. Jetzt komm doch endlich mal!“ Ich steige die Treppe hinauf und betrete ein geräumiges Zimmer, das zugleich den Flur bildet. Ein Bett steht am Treppengeländer, das andere neben der Tür zum Elternschlafzimmer. Dazwischen prunkt ein antikes Frisiertischen mit dreiteilig-klappbarem Spiegel. Gegenüber liegt die Tür zum Bad. Jule springt Trampolin auf dem Bett, die Federn quietschen, sie wirbelt eine ordentliche Staubwolke auf und jauchzt. Ich öffne die Fensterläden und sehe auf eine wunderhübsche Dachterrasse, die eine Etage tiefer liegt. Das Haus liegt am Hang. Der Blick reicht weit über die hügelige Landschaft der Provence, die im Dunst der Dämmerung unendliche Lilaschattierungen hervorbringt. „Wow“, entfährt es mir, ich bin sprachlos! Die Terrasse ist von einer weiß getünchten Mauer eingefasst. In Kübeln wachsen üppige Pflanzen, ich kenne ihre Namen alle, da meine Mutter sie liebt und regelmäßig verzweifelt, weil sie im kühlen, deutschen Norden nicht gedeihen: Oleander, Hibiskus, Zitronen-, Orangen- und Olivenbaum, Hortensien, Lavendel, Kletterrosen, Sonnenblumen und Tomaten. Jule springt mit einem großen Satz neben mich, gerät ins Wanken, krallt sich an mir fest und wir stürzen beinahe die Treppe hinunter. Sie ruft: „Geil, da sind Zitronen, Orangen, Tomaten und Oliven, die müssen wir ernten!“ Schon rennt sie die Treppe hinunter. Ihr Vater ruft: „Jule, das sind nicht unsere, wir müssen erst fragen!“ Ich gehe hinter Jule her. Wir betreten die Terrasse über die Küche. Diese bildet witziger Weise den größten Raum im ganzen Haus. Es gibt einen riesigen Herd, die Wände sind ringsherum mit offenen Regalen verkleidet, in denen sich getöpfertes Geschirr, neben Gläsern mit selbstgemachter Konfitüre stapelt. Es finden sich außerdem eingelegte Oliven, Kochbücher, Wein- und Wasserkaraffen, selbstgenähte bunte Tischdecken, Sets und Brotkörbe, Flaschen mit verschiedenen Essigsorten und kleine Gläser mit Korken verschlossen, auf denen die verschiedensten Gewürznamen stehen. Ich staune. Jule ruft schmatzend von draußen: „Annie du wirst irre! Hier gibt es tausend verschiedene Gewürztöpfe.“ Ich trete auf die Terrasse. Ein warmer Wind streichelt meine nackten Schultern. Ich rieche ein Gemisch aus Minze, Thymian und Lavendel. Der Innenhof ist so zugewachsen und vollgerankt, dass er wie ein verwunschener Garten aussieht. Eiserne Tische und Stühle stehen in seiner Mitte. Vögel zwitschern. Jule sagt: „Augen zu, du musst raten!“ Schon stopft sie mir etwas in den Mund. Das ist einfach für mich: „Basilikum!“ Ich öffne die Augen und lache über ihr verdutztes Gesicht. Aus dem Fenster über uns beugt sich meine Tante und sagt: „Mädchen, macht euch bitte frisch, wir gehen gleich zum Abendessen.“ Sie hat den Töpferkurs mit Halbpension gebucht. Eine deutsche Auswanderin töpfert, ihr französischer Mann kocht abends für alle. Wir laufen ein kurzes Stück durch das Dorf. Es scheint ausgestorben und wie aus einer anderen Zeit. Wir begegnen keiner Menschenseele. Die Straßenlaternen leuchten gelb und scheinen milchig in die Abenddämmerung. Grillen zirpen. Die Fensterläden der Häuser sind verschlossenen. Ob noch wegen der Mittagshitze oder weil dort niemand mehr wohnt, lässt sich nicht sagen. Der Putz blättert überall ab. Wir erreichen ein großes Gebäude, das aussieht wie ein alter Stall. Durch ein Scheunentor betreten wir es. Ah, hier wird getöpfert. Zehn Töpferscheiben stehen in einem großen Kreis. Auf einigen liegen angefangene Sachen, ich erkenne nicht, was es mal werden soll. Auf großen Tischen stehen Tassen, Becher, Teller Vasen, alle in weiß. Daneben liegen Tonklumpen in feuchtes Leinen gewickelt. An einer Wand steht ein riesiger Pizzaofen. Meine Tante lacht: „Das ist der Brennofen, wenn er voll ist, wird er angeworfen.“ An der gegenüberliegenden Wand sind Regale bis zur Decke geschraubt. Dort hängen Tassen und Becher an Haken, es stehen Schüsseln, Kannen, Vasen und Krüge auf Brettern. Sie sind in dunkelblau, türkisgrün, weiß, lavendel und hellgrün lasiert. Die meisten einfarbig aber es finden sich auch Tupfen, Streifen und Muscheln. Mein Herz macht einen Hüpfer, ich will töpfern! „Jule, du auch?“, frage ich sie. Sie ist schon durch die nächste Tür nach draußen gerannt und ruft: „Nee, was soll ich denn mit den ganzen Töppen?“ Ich folge ihr und bleibe gleich wieder stehen. Ein riesengroßer alter Olivenbaum steht in der Mitte des Hofes. Unter ihm ist eine lange Tafel gedeckt. Sie biegt sich durch die Last der Unmengen an Schalen und Töpfen mit Essen, Karaffen mit Wein und Wasser, Körben mit Baguette, Etageren mit Maccarones und Eclairs. Etwa zwanzig Erwachsene halten Gläser in den Händen, stehen um den Tisch und unterhalten sich ausgelassen. Es ist schon dunkel. Von dem Olivenbaum zu den Mauern hängen Lichterketten. Auf dem Tisch stehen Windlichter. Im Baum hängen Windspiele. Zwischen den Erwachsenen toben rund zehn Kinder und Jugendliche wild und laut lachend, Jule mittendrin. Dieser Sommer ist für mich eine Offenbarung: Es sind mes Vacances!

Nach den Ferien gehe ich in die achte Klasse. Meine langen rotblonden Locken, fallen mir über den Rücken. Mein schmales Gesicht wirkt dadurch noch länger. Von meinem Vater erbte ich die Sommersprossen.

Wenn ich lache, breitet es sich von meinen Augen, über meine Wangen und das ganze Gesicht aus und steckt jeden an. Das weiß ich von meiner Oma, sie hat dieses Lachen auch und sagte es mir. Von meiner Mutter bekam ich den großen Busen, für den ich mich schäme. Ich war das erste Mädchen in der Klasse, das Brüste bekam. Ich war zehn! Ich trug einen engen Balettanzug im Sportunterricht und saß in der Turnhalle auf der Holzbank vorm Fenster. Meine beste Freundin saß neben mir und roch nach ungewaschenem Po. Ich schämte mich für sie. Die Jungs, die ein paar Plätze weiter saßen, kicherten, standen auf, lachten, schauten zu uns rüber. Ich war immer noch mit dem Pogeruch beschäftigt. Unsere viel zu weißen Füße steckten in Ballerinaschuhen. Meine Freundin trug ebenfalls einen eng anliegenden Ballettanzug. Aber sie hatte keine Brüste. Ich stierte sie an, aber es war wirklich nicht mal in Erbsengröße etwas zu sehen. Ich seufzte. Meine Brüste waren kirschgroß und -rund, sie zeichneten sich deutlich unter dem straff gespannten Stoff ab. Eine Horde wild gewordener Jungs stürmte auf uns zu, machte Halt, begaffte uns, rannte wieder zurück und brüllte dabei: „Igitt, die hat schon Titten!“ Dann brachen sie in Lachen aus. Meine Freundin senkte verlegen den Kopf. Unsere Lehrerin kam aus dem Geräteraum zu uns herüber, wusste nicht was los war und begann mit dem Unterricht: Bockspringen. Darin bin ich eine Granate. Es lenkte mich ab. Erst in der Umkleidekabine dachte ich wieder an die Scham. Ich nähte mir aus Dauerelastischenbinden einen Brustwickel, so straff, wie ich es ertrug, damit man meine Brust nicht mehr sah. Darüber trug ich fortan weite T-Shirts. Eine Weile ging das gut. Irgendwann war mein Busen jedoch so groß, dass er keinen Halt hatte und mich am Hüpfen, Springen und Rennen hinderte. Bisher war ich das schnellste Mädchen der Klasse. Nun war ich nur noch unglücklich. In den ersten Ferien mit meiner Cousine fahren wir auch einmal an einen Nacktbadestrand am Mittelmeer. Ich schäme mich so sehr, dass ich die ganze Zeit auf dem Bauch liege und nicht einmal schwimmen mag. Ich sterbe fast vor Hitze. Wozu bekam ich diesen bescheuerten Frauenkörper? Ich bin ein Kind! Ich will nackt Ball spielen und mich frei fühlen…
Mit zwölf Jahren bekomme ich als erste meine Regel. Ich denke mein Körper spinnt total. Ich traue mich nicht, mit jemandem darüber zu sprechen und bastelte mir Binden aus Klopapier. Doch das hält natürlich nicht, Schlüpfer und Jeans sind voller Blut. Als meine Tante und mein Onkel in jenem Sommer Ausflüge machen wollen, gebe ich vor krank zu sein und lege mich eine Woche ins Bett. Es gibt keine Waschmaschine in unserer Unterkunft und ich habe nur noch eine lange Hose. An Röcke und Kleider ist in meinem Zustand gar nicht zu denken. Außerdem habe ich so starke Unterleibskrämpfe, dass Liegen das einzig erträgliche ist. Und Selbstbefriedigung. Das löst die Krämpfe. Ich hasse meinen Körper. Ich will kein Baby. Die Blutung ist klumpig. Etwa aprikosengroße Blutbälle arbeiten sich durch meinen Unterleib. Ob so ein Baby bei der Abtreibung aussieht? Aber ich hatte noch nie Sex, es kann also kein Baby sein. Ich bin gefangen in einem Frauenkörper…
Ich schaue durch einen Spalt der geschlossenen Fensterläden. Noch ist es herrlich kühl draußen. Heute Nachmittag wird es wieder 40 Grad heiß sein. Ich gehe duschen und will mich rasieren. Meine Körperbehaarung, die seit diesem Sommer dazu kommt, scheint das einzige zu sein, bei der ich es besser traf, als die anderen Mädchen in meinem Umfeld. Jule hat schwarzes dichtes Haar unter den Achseln, auf ihrer Vulva und an den Beinen. Und zwar nicht nur an den Schienbeinen wie ich, sondern selbst auf auf der Rückseite ihrer Oberschenkel kräuseln sie sich. Das ist echt gemein! Sie muss täglich rasieren, sonst kann sie keine kurzen Hosen tragen. Beim Abendessen fragte sie gestern ein Mädchen, das etwas jünger ist als wir, laut und so, dass es alle hören konnten: „Jule, du hast ganz viele Hundehaare an den Beinen! Soll ich die abklopfen?“ Jule lief Tomatenrot an und schrie: „Nein du blöde Kuh, das sind keine Hundehaare, sondern meine eigenen und die gehören da hin!“ Dann spielte sie weiter. Ich war beeindruckt. In der Dusche stehend sehe ich jetzt allerdings, dass es sie doch nicht kalt gelassen hat. Mein Rasierer ist mit kurzen, schwarzgelockten Haaren verstopft. Ich stöhne. Jule, das ist echt eklig, das sauber zu machen! Ich schaue an mir herab. Meine Haare sind dünn, blond und glatt, Jule findet sie unsichtbar. Ich sehe natürlich trotzdem jedes noch so kleines Härchen ganz genau. […]

Der vollständige Text erscheint mit weiteren meiner Kurzgeschichten.

Print – Mosaikroman

Maja, die verlorene Löwin sucht ihre Stimme – Die Löwin

„Akwaaba!“ „Wose? Ka yo bio?“ ƐnyƐ hwee!“ Große, fast schwarze Augen schauen mich an. Freundlich, beinahe sanft ruhen sie auf mir. Der Mund formt ein geduldiges Lächeln. Die Haare sind eng am Kopf geflochten. Die Frau ist groß, genauso groß wie ich. Sie trägt ein farbenfrohes Kleid, das hinunter bis zu ihren Füßen reicht, die in Flipflops stecken. Auf dem Kopf balanciert sie einen Topf mit Wasser. Um die Brust hat sie ein Tuch gewickelt. Daraus schauen an ihrer Taille winzige rosafarbene Füßchen hervor. Mein Herz kribbelt vor Glück. Sie bemerkt es vor mir. Ihre Hände greifen hinter ihren Rücken nach dem Baby. Seine Augen schauen ebenso so sanft, wie die seiner Mutter. Sie fragt, ob sie mich berühren dürfe, sie habe noch nie weiße Haut angefasst. Ich nicke. Sie streichelt mich. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass die Berührung einer fremden Frau so angenehm sein kann. Sie fragt mich, ob ihr Baby mich anfassen dürfe. Ich nicke wieder. Sie nimmt die winzige Hand in ihre, spricht leise ein paar Worte, singt sie eigentlich eher und führt die Fingerchen auf meinem Arm auf und ab. Das Baby quietscht vergnügt. Ein warmes Lachen fließt aus mir. Bin das wirklich ich? Immer mehr Mütter umringen uns, auf dem Rücken ihre Babys tragend, auf dem Kopf Körbe mit Brot oder Wannen mit Wäsche oder Töpfe mit Fufu. Die fremde Frau hält mir ihr Baby hin, damit ich es auf den Arm nehmen kann. Ich erwarte, dass es anfängt zu weinen, sobald es von seiner Mutter getrennt ist. So kenne ich es aus Deutschland. Aber das Baby schaut mich nur neugierig an. Ein Gefühl tiefer Liebe durchströmt mich. Die Mutter lacht mir zu und fragt, ob sie meine Haare anfassen könne. Natürlich! So weich, findet sie die. Sie nimmt die Hand ihres Babys, ich senke den Kopf. Das Baby zieht an meinen Haaren und gluckst vergnügt. Akwaaba, fühle ich auf meiner Haut. Akwaaba, höre ich im Lachen. Akwaaba, rieche ich im Duft der orangefarbenen Erde. Akwaaba, schmecke ich im Fufu. Akwaaba, sehe ich in den Gesichtern.

Als wir uns das erste Mal begegnen, ist sie mir unsympathisch. Sie ist übergewichtig, schmatzt lustlos auf einem Kaugummi, schaut gelangweilt weg, wenn ich ihr etwas erkläre. Antwortet: „Ye, ye“, wenn ich sie etwas frage. Von sich aus sagt sie nichts. Ich bin völlig verunsichert. Ich brauche dringend Hilfe. Anfangs kommt sie vier Stunden. Küche und Bäder putzen, saugen, wischen. Die Zeit reicht nicht. Ich denke, sie ist langsam. Ich einige mich mit ihr darauf, dass sie wöchentlich im Wechsel Erdgeschoss und den ersten Stock reinigt. Das kommt mir zu pass, da ich nicht alles auf einmal aufräumen muss. Ich arbeite selbständig, meist von Zuhause. So habe ich meine Ruhe, dort, wo sie gerade nicht werkelt. Wir sprechen nicht miteinander. Es ist mir unangenehm, dass sie mein Bett nach einer Liebesnacht neu bezieht, den Eimer mit Damenbinden leert, mein „Gebiss“, wie ich meine Plastikschiene zum nächtlichen Verhindern des Zähneknirschens spöttisch nenne, aus dem Zahnputzbecher nimmt, um diesen zu reinigen. Sie trägt Handschuhe. Sie bürstet die Bremspuren in der Kloschüssel. Sie stopft blutverkrustete Unterhosen in die Waschmaschine. Die Geräusche, die sie dabei macht, stören mich. Ich kann mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Ich höre Klodeckel klappen, Staub saugen, Schritte die Treppe knarzend hoch und runter laufen, den Wischmopp im Eimer stampfend auswringen, die Haustür öffnen und schließen, Geschirr klappern. Wenn sie fertig ist, kommt sie Kaugummi schmatzend an meinen Schreibtisch, knallt mir einen Zettel auf meinen Laptop und sagt: „I’m finish“. Ich zeichne ihre Stunden für die Agentur ab. Sie geht grußlos. Wenn sie weg ist, finde ich meine Sachen nicht an ihrem Platz. Ich ärgere mich. Kompost füllt die Papiermülltonne. Die Abfallwerker werden sie wieder nicht mitnehmen. Ich hänge kopfüber darin, um matschige Bananenschalen, verschimmelte Essensreste und Kaffeekrümel heraus zu fischen. Ich erklärte es ihr gefühlte hundert Male, dass es wirklich nervig sei, vergeblich. Wolle schrumpft im 60 Gradwaschgang, Teflonpfannen werden blitzsauber im Geschirrspüler und verlieren jegliche Beschichtung. In den Zimmern hängt der Geruch von Schweiß.

Wenn wir Urlaub haben, kommt sie trotzdem um sechs Uhr. Sie klingelt, fängt im Schlafzimmer an und macht die Betten. Anfangs kommt sie ohne Klingeln ins Haus. Ich erleide fast einen Herzinfarkt, als sie vor mir steht. Es dauert Monate, bis sie sich ans Klingeln gewöhnt. Ich werde Mutter.

Es gibt den siebten Tag in Folge Reis ohne Beilagen und Soße. „Eure Mami ist ein zähes Luder. Das sagte schon meine Austauschülerin als ich von morgens bis abends ohne Pause, Essen oder Trinken durch Paris lief“, sagt sie belustigt und stolz. Wir drei Kinder essen schweigend. Wir stellen das nicht in Frage. Wir stellen sie nicht in Frage.
Als mich mein Freund im Studentenwohnheim besucht und fragt: „Wieso hast du nichts zu Essen im Kühlschrank?“ Lautet meine Antwort: „Wieso, ich habe doch Reis und Nudeln.“ Er zieht eine Augenbraue hoch und fragt: „Und das isst du trocken? Gehst du wenigstens in die Mensa?“. Ich zucke mit den Achseln und antworte: „Ich gehe nicht mit den anderen in die Mensa. Es ist mir zu teuer. Pommes sind mir zu ungesund, außerdem bin ich Vegetarierin.“ Er geht einkaufen und kommt mit Obst und Gemüse, Joghurt und Milch, Brot und Käse, Tomatensoße und Pizzaböden, Milchreis und Apfelmus zurück. „Heute lade ich dich zum Essen ein“, sagt er lachend. „Ich habe auf dem Weg zum Supermarkt jede Menge Bars und Bistros gesehen. In denen wird ein Student nicht arm.“ Ich schäme mich, bin dankbar und beeindruckt von ihm.
Mein älterer Halbbruder sieht mich bestürzt und verwundert an: „Aber unser Vater hat deiner Mutter jeden Monat Unterhalt überwiesen, bis du 18 Jahre alt warst! Wusstest du das denn nicht? Ich habe die Ordner mit den Zahlungen alle für dich aufgehoben.“ Ich will sie nicht sehen. Er kann sie behalten. Ich schäme mich und fühle mich vorgeführt.
Meine Mutter mietet in einem gehobenen Hamburger Stadtteil ein Haus, mit einem riesigen Garten. Sie kauft Seide aus China, mehrere Ballen. Sie kauft einen Schredder, für den Garten. Sie mietet in den Ferien Häuser in Dänemark, mit Solarium. Sie kauft sich eine elektrische Saftpresse, für ihre Diät. Sie kauft eine Küchenmaschine, zum Salatraspeln. Sie kauft ein Service von Villeroy & Boch, das Auge isst schließlich mit. Sie kauft ein weißes Samtsofa, für die Abende vorm Fernseher. Sie kauft ein Tischsolarium, für die Bräune im Winter. Ich brauche neue Unterhosen, die alten haben Löcher. Wir haben kein Geld, wir können sie nicht kaufen. Ich fürchte den erneuten Hohn und Spott meiner Mitschüler. Ich schwänze den Sportunterricht. „Muschi, ich gehe heute zur Post und gucke ob in meinem Fach ein Brief angekommen ist, in dem steht, dass das Kindergeld bald überwiesen wird. Dann bestelle ich uns ein großes Paket bei Otto, mit lauter schönen Anziehsachen. Notfalls stottere ich das in Raten ab und wir essen Reis ohne Soße“, sie freut sich über ihren Witz. Wieso hat sie ein Postfach? Meine beiden jüngeren Brüder wollen bis heute nichts davon wissen.

„Gyae, gyae, gyae!“ Auf dem Markt gibt es alles zu kaufen. Ich meine nicht alles, was man braucht, sondern wirklich alles. Gemüse, Obst, Kühlschränke, Hühner, Kühe, Ziegen, Autos, Medikamente, Gewürze, Kochbananen, Holz, Wellblech, Körbe, Wannen, Töpfe, Schuhe, Kleidung, Taschen, Maniok, Yam, Fernseher, Handys, Kunsthaar, Ananas, Kokosnüsse, Werkzeug… Ich bin überwältigt. Händler preisen mir rufend ihre Ware an. Frauen singen und tanzen beim Lobpreisen. Männer stampfen mit den Füßen, legen den Kopf in den Nacken, ihren Kehlen entrinnen fremdartige Vogelrufe. Es riecht stark nach Essen, Gewürzen und Schweiß. Es ist heiß, sehr heiß. Die Sonne sticht. Ich brauche was zu trinken. Es gibt überall Kühlschränke mit Coca-Cola-Flaschen. Sie sind an laufende Pickups angeschlossen oder an kleine Generatoren. Die Cola ist teuer. Außer reichen Ausländern scheint sie sich keiner leisten zu können. Also wozu? Stolz, es ist stolz etwas präsentieren zu können! Stolz auf das, was zu dem Leben gehört, von dem alle träumen. „Deutschland, da wo du herkommst, das ist doch das Paradies. Ihr habt alles wovon wir träumen. Euch mangelt es an nichts. Ihr könnt euch so viel Cola leisten wie ihr wollt. Kannst du mich nicht mitnehmen nach Deutschland?“, Andrew lacht mich an. Der Schweiß perlt auf seiner Stirn. Er wischt ihn sich mit dem Ärmel seines blauen Overalls ab. Seine Hände sind ölverschmiert. Er hat versucht, den Bus, mit dem ich zum Markt fuhr zu reparieren, ohne Erfolg. Er wollte mir ein bisschen was zeigen und ein Ersatzteil auf dem Markt besorgen. Er ist nicht aufdringlich. Trotzdem bin ich unangenehm berührt. Ich sage ihm, dass die Afrikaner, die ich in Deutschland kennenlernte, häufig darunter leiden, dass die Deutschen sie nie anlachen, immer griesgrämig seien und am liebsten für sich bleiben. Außerdem sei das Wetter so unglaublich schlecht. Andrew schaut mich kopfschüttelnd an: „Es ist das Paradies, was willst du mehr?“ Ein Mann schubst mich im Vorbeirennen zur Seite. Ich lasse mir an einem Stand Rastazöpfe flechten. Es ziept entsetzlich. Und es dauert Stunden. Die beiden Frauen, die meine Haare bearbeiten, tragen im Tuch auf dem Rücken jede ein Baby. Ich höre die ganze Zeit nicht einen Mucks. Die eine kämmt das Kunsthaar im sitzen und teilt es in dünne Strähnen, die andere flicht das Kunsthaar im Stehen in meine Haare. Mücken schwirren um mich. Ich versuche sie zu verscheuchen. Ich habe mich gründlich mit Insektiziden eingesprüht und nehme Malariaprofilaxe. Dennoch reagiere ich panisch, wenn sie mich stechen. Es gibt unzählige Krankheiten, die sie übertragen können. Besonders hier, bei dem tropisch-feuchten Klima, mit unzähligen Pfützen, die sich auf den gelben Lehmpisten sammeln und im dichten Menschengedränge. Ich bereue meinen Entschluss mit den Rastazöpfen. Eine Horde Menschen rennt am Stand vorbei, laut schimpfend, die Fäuste zum Himmel gereckt. Warum sind sie so aufgebracht? Jemand hat an einem Stand Kochbananen geklaut. „Und alle rennen hinter dem Mann her?“ frage ich. „Ja! Es gibt viele hungrige Mäuler. Würde man sie alle gewähren lassen, ermuntert das immer weitere. Die Standbesitzer haben Zuhause selbst eine darbende Familie, die sie ernähren müssen“, sagt die schlanke Frau in ihrem eng ansitzenden Kleid mit ruhiger, gutmütiger Stimme und zieht dabei an meinen Haaren, um sie in den nächsten Rastazopf einzuflechten. Am nächsten Tag lese ich eine Randnotiz in einer englischsprachigen Zeitung: Lynchmord auf dem Markt nach Diebstahl von Essen. Rund hundert aufgebrachte Männer und Frauen prügelten einen Mann nach dem Diebstahl von Kochbananen zu Tode. Er hinterlässt seine Frau und sieben Kinder. Die Regierung verurteilt Selbstjustiz, die Polizei gehe dagegen vor. Unglaubliches Grauen lässt mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen.

Als ich einen dicken Babybauch zum Ende meiner Schwangerschaft vor mich herschiebe, erhöhe ich ihre Stunden auf sechs pro Woche. Es reicht immer noch nicht.

Irgendwann fragt sie mich, ob ich ein Baby erwarte. Es ist nicht nur die erste an mich gerichtete Frage, es ist die erste persönliche Ansprache überhaupt. Als ich bejahe, ändert sich ihre Körpersprache komplett.

Sie strahlt übers ganze Gesicht, als sie auf Englisch sagt: „Ah, das habe ich schon geahnt. Eine Mutter spürt so etwas mit dem Herzen.“ Sie breitet ihre Arme aus, wie zur Liebkosung. Ihre Augen funkeln. Von nun an fragt sie mich jedes Mal nach dem Baby und hält einen kleinen Plausch. Sie ist gut gelaunt. Ihre Gegenwart stört mich nicht mehr. Als ich mit einem Taxi unter Wehen ins Krankenhaus zur Entbindung fahre, wünscht sie mir viel Glück, ruft immer wieder: „God bless you“ und wirft mir Kusshändchen nach. Ich bin gerührt und in meinem Umstand ohnehin schon nahe am Wasser gebaut, so dass ich den Tränen freien Lauf lasse. Der Taxifahrer versucht mich aufzumuntern: „Kindchen, das wird schon alles gut gehen! Ich habe so viele Frauen ins Krankenhaus gefahren und wir sind nie zu spät gekommen. Ich gebe Gas“. Was folgt, bringt meine Nerven, die einem seidenen Faden gleichen, noch mehr unter Spannung. Als ich entlassen werde, schickt uns die Agentur zum ersten Mal eine Vertretung. Es ist die Nichte. Ich erfahre den Namen meiner Hilfe: Jeanny. Es ist ihr englischer Name, ihren Afrikanischen werde ich nie erfahren. Dafür aber ihre Geschichte. Jeanny bekommt zwei Kinder in Ghana, einen Jungen und ein Mädchen. Ihr Ehemann verlässt sie kurz nach der Geburt des zweiten Kindes und lässt sich nie wieder blicken. Jeanny ist alleinerziehend, arbeitet viel und hart, um ihre Familie zu ernähren. Aber es reicht nicht, um die Kinder auf‘s Collage zu schicken. Sie will, dass aus ihnen mal etwas wird, im Gegensatz zu ihrer Mutter. Jeanny nimmt von niemandem Geld oder Hilfe an. Als ihr Sohn 16 Jahre alt ist und ihre Tochter 14, geht Jeanny nach Europa. Zahlreiche ghanaische Verwandte wanderten über Acra nach Italien aus. Daher ist es Jeannys erster Anlaufpunkt. Ihre Mutter verspricht, ein Auge auf ihre Enkelkinder zu werfen. Ein paar Familienmitglieder zog es weiter von Italien nach Deutschland. Dort gibt es gerade einen richtigen run nach Haushalthilfen. Wer ein konkretes Arbeitsangebot nachweisen kann, bekommt eine Aufenthaltserlaubnis. Jeanny nimmt eine Stelle in Hamburg an und kommt bei Verwandten in Wilhelmsburg unter. Dort gibt es günstigen Wohnraum. Zu ihrer Arbeit braucht sie jeden Tag über eine Stunde hin und noch mal wieder zurück, weil die Stadtteile mit der wohlhabenden Kundschaft nicht um die Ecke liegen. Sie kommt nicht ein einziges Mal auch nur fünf Minuten zu spät. Sie ist nie krank. Sie nimmt nie Urlaub. Sie beschwert sich nie. Als ihr Sohn 18 Jahre alt ist, stirbt er an einer Überdosis. Jeanny erscheint zum ersten Mal nicht bei der Arbeit…
Ich frage ihre Nichte, wann die Beerdigung sei und wie lange Jeanny in Ghana sei. Sie schüttelt stumm den Kopf. Sie erklärt mir, dass ihre Tante nicht zur Beisetzung ihres Sohnes fliegen werde, da die Flüge so kurzfristig zu teuer sind. Sie will das Geld lieber für ihre Tochter sparen. In der darauffolgenden Woche steht Jeanny wieder um sechs Uhr bei uns im Haus und macht sich an die Arbeit. Sie erwähnt den Tod ihres Sohnes mit keinem Wort. Ich weiß, dass sie es nicht tut, um mich damit nicht zu belasten. Die Demuth und Tapferkeit dieser anfangs so stummen Dienerin treiben mir Tränen in die Augen. Sie verließ ihre Kinder, damit sie ein besseres Leben haben als sie selbst. Nun scheint dieses Opfer vergebens, so sehe ich es. Aber sie kämpft weiter klaglos für ihre Tochter. Ich wende mich schnell ab, denn meine Betroffenheit würde sie bekümmern. Als wir uns das nächste Mal sehen, gebe ich ihr das Geld für den Flug. Wir schauen uns in die Augen.

Ich sehe ihren Schmerz, eine Trauer, die nur Mütter fühlen können. Sie scheint greifbar zwischen uns. Wir umarmen uns. Stumm laufen uns Tränen über die Wangen.

„Was hast du heute für Hausaufgaben auf?“, fragt sie mich, während sie in der Küche hantiert. „Deutsch, wir müssen einen Aufsatz aus der Perspektive eines Tieres schreiben“, antworte ich gequält. „Oh fein, das klingt doch super! Ich helfe Dir“, sagt sie vergnügt. Ich hole meine Schulsachen und lege sie auf den Esstisch. Ich bin eine gute Schülerin, aber entsetzlich schüchtern. Der Gedanke daran, meine Geschichte morgen vorlesen zu müssen, löst heute schon schweißnasse Hände, Kopfschmerzen und starkes Unwohlsein bei mir aus. Meine Mutter setzt sich an den Tisch und liest sich die Aufgabe durch. „Toll, ich liebe solche Aufgaben,“ sie nimmt einen Zettel aus der Schublade hinter sich und einen Stift aus einer Dose, dann macht sie sich ans Werk. Sie schreibt eine Geschichte aus der Perspektive einer Katze. Eine halbe Stunde lang spricht sie kein Wort. Dann legt sie den Stift zur Seite, reibt sich zufrieden die Hände und sagt voller Stolz zu mir: „So, jetzt brauchst du die Geschichte nur noch in dein Heft abzuschreiben.“
Ich gewinne beim Vorlesewettbewerb in meiner Klasse. Dann in meiner Stufe, zum Schluss an unserer Schule. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe. Ich kann mich an diese Momente nur vage erinnern. Zu Beginn raste jedes Mal mein Herz, kalter Schweiß brach aus, ich zitterte am ganzen Körper, ich sah alles nur noch verschwommen, Geräusche klangen dumpf, dann verließ ich meinen Körper und sah mich von oben und ganz weit weg. Was anschließend folgte, erinnere ich nicht mehr. Ich gewinne den Schulwettbewerb und soll für unsere Schule mit Schülerinnen und Schülern aller anderen Schulen Hamburgs um die Wette vorlesen. Allein beim Gedanken daran fühle ich mich krank. Ich sage zu meiner Mutter: „Ich kann das nicht. Ich fühle mich schrecklich, wenn ich nur daran denke.“ Sie breitet ihre Arme aus und zieht mich an ihren großen Busen. Da ich inzwischen größer bin als sie, muss ich mich bücken. Ich lasse mich wie in ein weiches Kissen, tief hineinfallen. „Mein armes Puschilein. Natürlich musst du da nicht hingehen. Ich rufe in der Schule an und sage du bist krank“, flötet sie mit sanfter Stimme, während sie mir über den Kopf streichelt.
Als ich Anfang 19 Jahre alt bin, in meinem letzten Schuljahr vor dem Abitur, fühle ich mich viel zu alt für die Schule, für Hausaufgaben und um mir etwas von meinen Lehrern sagen zu lassen. Ich habe keine Idee, wohin mich mein künftiges Leben führen wird und will einen sozialen Dienst ableisten. Erstmal weg von Zuhause. Erstmal auf eigenen Beinen stehen. Etwas Gutes tun, die Welt retten, dann wird sich mir schon ein Weg auftun, hoffe ich und habe wahnsinnige Angst. Ich bewerbe mich schriftlich in einem Nationalpark als Rangerin. Ich werde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Ich soll beim Leiter des Nationalparks anrufen und mich zu einem Gespräch mit ihm verabreden, steht in dem amtlichen Schreiben, das ich mit der freudigen Botschaft erhalte. Sofort quäle ich mich wieder. Ich kann da nicht anrufen, ich schaffe das nicht. Ich sage es meiner Mutter. „Ist doch kein Problem“, trällert sie fröhlich. Sie geht zum Telefon und ruft beim Leiter des Nationalparks an. Sie unterhält sich 20 Minuten mit ihm über mich. Dabei wirft sie mehrfach lachend den Kopf in den Nacken. Als sie den Hörer auflegt sagt sie zu mir: „Siehst du, das war gar kein Problem. Ich habe dir für nächste Woche einen Termin gemacht.“ Ich schrei sie an: „Warum hast du das getan? Das ist total peinlich! Ich werde in ein paar Monaten 20 Jahre alt!“ Sie schüttelt den Kopf, guckt mich enttäuscht an und sagt: „Warum kannst du nicht einfach dankbar sein? Ich meine es doch immer nur gut mit dir.“

Ich fahre mit dem Bus von Acra nach Norden. Ich will mir eine Goldmine in Obuasi ansehen. Es dauert einen Tag lang von der Hauptstadt Ghanas aus, obwohl sie nicht mal 300 Kilometer entfernt liegt. Ich weiß jetzt auch warum. Der Bus schaukelt hin und her und wirbelt auf den gelben, sandigen Schotterpisten jede Menge Staub auf. Tiefe Schlaglöcher und ein nicht enden wollender Strom des Gegenverkehrs lassen den Busfahrer eine Art Schlangentanz auf der Straße vollführen. Er macht das gut, ohne Frage. Geht‘s zügig, fährt er 40 Stundenkilometer. Phasenweise kommt er aber auch einfach nur im Schritttempo vorwärts. Ich wundere mich, dass es selbst im Großraum der Hauptstadt keine besseren Straßen gibt. Wie wollen die Menschen ihr Land an der Grenze im Norden erreichen, rund 1000 Kilometer von Acra entfernt? Müll säumt die Piste, alte Blechwannen, Autos, Kühlschränke. Dazwischen Hunde, Welchblechhütten und spielende Kinder. Im Hintergrund Regenwald. Als ich an der Goldmine ankomme, tut sich vor mir ein riesiger orange-gelber Krater auf. Der Tageabbau ist günstiger, aber er reißt schwere Wunden ins Land. Er zerstört den Wald, verschmutzt das Wasser, zerschlägt Steine bei Sprengungen, lärmt Tag und Nacht, vergiftet mit Chemikalien, lässt Fische sterben. Der Bergbau verbietet ehemalige Wege zu betreten, Grundstücke zu bebauen und vormalige Felder zu bestellen. Bauern werden enteignet und verlieren ihre Lebensgrundlage. Sie haben keine Ausbildung und bekommen keinen Job in den Goldminen.

Dort arbeiten unzählige barfuß und ohne Schutzkleidung.

Der Bergbau ist Ghanas größter Arbeitgeber, mit etwa hundertfünfzigtausend Familienunternehmen. Gold ist Ghanas wichtigstes Exportgut. Das Goldfeld von Obuasi ist das neuntgrößte der Welt. Ghana gilt als politisch stabiles, wirtschaftlich starkes und in den sozialen Bereichen fortschrittliches Land im Vergleich zu anderen afrikanischen Staaten. […]

Auszug aus meiner Kurzgeschichte Mutter. Sie erscheint mit weiteren voraussichtlich 2023 in einem Buch.

Maja, die verlorene Löwin sucht ihre Stimme

Maja

Sie hatte wunderschöne Beine. Ich meine, nicht irgendwie schöne Beine. Sondern solche, nach denen man sich umdrehte. Man sah die Frau mittleren Alters, nicht besonders hübsch. Kurze, blonde Haare, schwarze, dicke Hornbrille, vom Typ her maskulin und etwas verhärmt. Vom Schicksal? Der Arbeit? Wer weiß… Möglicherweise aus Langeweile, aber keinesfalls aus einer Hoffnung heraus, ließ ich den Blick an ihr herunter gleiten und sah ihre Beine: lang, wohlgeformt und braun. „Wow!“, schoss es mir durch den Kopf und nach ein paar Schritten dachte ich: „Hatte sie wirklich diese wahnsinnigen Beine?“ Ich konnte nicht anders, ich musste mich noch mal nach ihr umdrehen: ja, hatte sie!

https://youtu.be/ZEk15bOthcI

Meine Frau hatte nicht so zauberhafte Beine. Damit lag sie mir ständig in den Ohren. Lang, aber sie waren ihr nicht wohlgeformt genug. Schlank, aber sie maulte, dass sie zur Orangenhaut neigten. Auf den Knien fanden sich Sommersprossen, die alle ihre Liebhaberinnen süß fanden. Bis ich sie heiratete. Das Haar fiel ihr in roten Locken über die Schultern und ihre Haut blieb immer weiß. Braun wurde sie nie. Eher verbrannte sie vorher und warf schmerzhafte Blasen. Ihr Stiefvater zwang sie, im Sommer in Südfrankreich, ihre Haut der Sonne auszusetzen. Ich fragte sie, ob sie denn keine Sonnencreme dabei hatten? Sie vermutete, es war seine Rache an ihrem leiblichen Vater. Gleichzeitig konnte er ihre zart knospende Brust begaffen. Ich schweife ab… Anfangs war meine Frau eifersüchtig auf DIE SCHÖNEN BEINE. Später war sie nur noch dankbar für ihren eigenen Körper. Genauso wie ich. Mit unseren unperfekten Beinen konnten wir durch einen warmen Sommerregen rennen, mit unseren Kindern Seil springen, mit dem Rad einen steilen Berg hinunter sausen, auf einem rauschenden Schlossfest bis zum Morgengrauen tanzen, in einem See auf dem Rücken schwimmen und dabei den weißen Wolken, am knallblauen Himmel, bei ihrer gemächlichen Reise zu sehen oder in wilder Ekstase den begehrten Körper leidenschaftlich umschlingen…

Besonders dankbar waren wir dafür, dass es unsere Beine noch gab. DIE SCHÖNEN BEINE waren dagegen inzwischen längst von Maden und Würmern zerfressen. Verfault und verwest. Zu Erde geworden. Der Tod besiegte sie, aber war er nicht besser als ihr Leben?

DIE SCHÖNEN BEINE hatten Eierstockkrebs. Als DIE WEIßEN KITTEL den Tumor fanden, war er bereits Walnussgroß. In ihrem Körper blühten Metastasen. In der Niere, der Leber, der Wirbelsäule, des Darms… DIE SCHÖNEN BEINE freuten sich, dass die Lunge nicht befallen war. Als sie es mir erzählten, fragten sie mich: „Was trägt man zu seiner eigenen Beerdigung?“ Ich wusste nichts zu erwidern. Zur Erfüllung ihres Kinderwunsches hatten DIE SCHÖNEN BEINE das Gleiche über sich ergehen lassen, wie meine Frau. So lernten wir uns kennen. Sie erklärten es mir und sich selbst so: „Wenn der Wunsch unendlich groß ist… Wenn er jahrelang immer verzweifelter wird. Wenn dein ganzes Sein nur noch aus diesem einen Wunsch zu bestehen scheint. Dein Kopf, mit all deinen Gedanken. Dein Herz, mit deiner ganzen Liebe. Dein Körper, mit jeder deiner Fasern. Dann bist du bereit, alles, wirklich ALLES zu tun! Auch, falls es Selbstmord wäre.“ Obwohl ich ebenfalls gerne Mutter werden wollte, kannte ich dieses allesverschlingende Verzehren nicht. Manchmal plagten mich deshalb Gewissenbisse. Wenn meine Frau mit bleichem Gesicht auf ihrem Kopfkissen lag. Und zwischen dem Weißton des Bettleinens und ihrer Haut kein Unterschied auszumachen war. Oder bildete ich mir das ein? Weil es dunkel war und der Mond, der durch das Fenster schien, die einzige Lichtquelle bildete? Ihre Sommersprossen zeichneten sich schwarz auf ihrem Gesicht ab. Die Locken lagen wirr um ihren Kopf verteilt, quollen über den Rand ihres Kissens hinaus und machten sich auf dem Laken breit. Bis ihnen mein Kissen eine Barriere bot, über die sie sich nicht hinweg zu setzen vermochten. Ihr Gesicht war selbst während der Nachtruhe angespannt. Ihr Schlaf war unruhig. Ihr Atem ging leise und unregelmäßig. Ich lag stundenlang wach in dieser Zeit. Sie tat mir leid und ich wünschte mir, wir kämen irgendwie raus aus dieser Nummer. Ich sehnte mich nach unserem alten, unbeschwerten Leben. Gleichwohl wusste ich natürlich nur allzu gut, dass es nie wieder so werden würde, wie früher…

100, 101, 102, leiser Schnarcher. 103, 104, 105, 106, 107, unruhiges Hin- und Herschlagen mit dem Kopf. 108, Zähneknirschen? 109, 110, 111, 112, 113, zur Seite Strampeln der Decke. 114, 115, 116, Mitternacht. Noch fünf Stunden bis zum erlösenden Klingeln des Weckers. 117, was taten wir bloß?

Meine Frau krümmte sich vor Bauchschmerzen. Wie zum schlechten Scherz, wölbte sich ihr Unterleib, gleich dessen einer Hochschwangeren. Winzige Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn und ihrer Oberlippe. „Ich fahre dich jetzt ins Krankenhaus!“, sagte ich energischer, als beabsichtigt. Ich rechnete mit Gegenwehr. „Nein“, stöhnte sie, „mach mir noch einen Proteinshake! DER WEIßE KITTEL meinte, ich solle so viel Eiweiß wie möglich zu mir nehmen und reichlich trinken.“ Ich sah sie zweifelnd an. Verschwand dann in die Küche und machte ihr den fünften Proteinshake des Tages. Als ich ihn ihr reichte, versuchte ich mit der schmeichelhaftesten Stimme, die mir in dieser angespannten Situation möglich war, zu sagen: „Falls es dir nach diesem Glas nicht besser geht, müssen wir in die Klinik fahren!“ Ich rief vorsorglich schon mal die Notfallnummer an, die wir vom Kinderwunschzentrum erhielten. Falls sich etwas Beunruhigendes am Wochenende zutragen hätte oder abends. Was aber so gut wie nie vorgekommen wäre, wir sollten uns auf keinen Fall sorgen. Eine Handynummer. Für meinen Geschmack klingelte es unnötig lange. „Ja?“, endliche eine Stimme. Im Hintergrund Kindergeschrei und Hundegebell. Laute aus einer anderen Welt, nach der wir uns zu sehr sehnten. Und das mit dem Tod meiner Frau hätten bezahlen sollen? Ich riss mich zusammen und schilderte DEM WEIßEN KITTEL den Zustand meiner Frau. Er klang betont verständnisvoll, als er sagte: „Es tut mir leid, aber sie müssen sich sofort auf den Weg ins Krankenhaus machen.“ Als ich es meiner Frau erzählte, gab sie ihren Widerstand endlich auf. Ich fuhr sie in die Klinik. „Hyperstimmulationssyndrom! Es hätte tödlich enden können“, stellte DER WEIßE KITTEL nüchtern fest, als er ein Ultraschall des Eierstocks meiner Frau machte. „Bitte was?“, fragte ich. DER WEIßE KITTEL zeigte auf den Monitor. „Das ist der Eierstock. Er ist riesig, weil ihn 17 reife Eizellen aufpusteten, wie einen Ballon. Und er ist voller Flüssigkeit. Der Körper ihrer Frau muss zugepumpt sein mit Hormonen.“ Meine Liebste sagte, wie zur Entschuldigung: „Ich spritze mir die Hormone seit über einem Monat täglich selbst in den Bauch. „So was habe ich noch nie gesehen“, erwiderte DER WEIßE KITTEL. „Ich geben ihnen eine Infusion. Sie werden es schon schaffen!“ Er klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Ja, hoffentlich!“, antwortete sie. „Wäre blöd, falls nicht! So kurz vorm Ziel…“ Ich küsste sie auf die Stirn. „Sag so etwas nicht! Das wichtigste ist deine Gesundheit! Vergiss das nie.“ Sie lächelte matt.

Zwei Tage später war sie fahrtauglich. Es reichte zumindest um im Beifahrersitz zu hängen. Ich fuhr ohnehin lieber Auto, als sie. Es ging nach Dänemark. Wir hatten uns ein besonders schönes Hotel gegönnt. Doch von den Dingen um uns herum nahmen wir keinerlei Notiz. Ich durfte meine Frau zur Operation begleiten. Wir wurden getrennt voneinander vorbereitet. Ich bekam einen weißen Kittel, dessen Knöpfe sich auf dem Rücken befanden. Wie zur Hölle hätte ich da bitteschön alleine reinkommen sollen? Egal, ich setzte eine grüne Haube über meine Haare. Und nahm den weißen Mundschutz. Ich wartete in einem kleinen Raum ohne Fenster. Er war weiß gekachelt und mit einer grellen Neonlampe an der Decke ausgeleuchtet. Es gab ein Waschbecken, daneben einen Seifenspender und Desinfektionsmittel. Dann noch eine Pritsche, auf die ich mich setzte. Das war’s. Es dauerte ewig. Ich hatte Sorgen um meine Frau. Ich konnte nicht stillsitzen. Ich stand auf und drehte Runden um die Pritsche. 51, 52, 53, boah war das stickig und ich konnte nicht mal ein Fenster öffnen. 54, 55, 56, 57, 58, ich verschränkte die Hände beim Gehen hinterm Rücken. So wie ich es manchmal bei WEIßEN KITTELN beobachtet hatte. Warum taten die das? 59, ich krallte meine Fingernägel so fest ich konnte in meine Hände, bis ich den Schmerz nicht mehr aushielt. 60, 61, 62, was machten die bloß so lange? 63, 64, 65, 66, 67, ich bekam immer schlechter Luft. Mein Hals fühlte sich wie eingeschnürt an. Ich hatte Angst um meine Frau. 68, Panik stieg in mir auf. Wenn ich schrie, hätte mich dann jemand gehört? Wieso gab es keinen Alarmknopf, den ich hätte drücken können? 69, 70, 71, war es in Krankenhäusern nicht Vorschrift, dass es in jedem Raum einen Alarmknopf gab, den man im Notfall hätte drücken können? 72, vielleicht war das in Dänemark anders? 73, 74, 75, ich hätte die Scheibe des Knopfes für Feueralarm einschlagen können. 76, wenn nicht gleich jemand gekommen wäre, hätte ich das gemacht! 77, 78, 79, 80, 81, jetzt! Die Tür flog auf. „Na, dann wollen wir mal“, sagte DER WEIßE KITTEL gut gelaunt und stürmte durch den kleinen Raum weiter in den OP. Meine Frau lag noch bleicher als des nachts auf einem Stuhl, wie beim Gynäkologen. Keine einzige ihrer widerspenstigen roten Locken schaffte es, sich durch die grüne OP-Haube zu drängen. Ich versuchte ihr aufmunternd zuzulächeln, doch ich spürte, wie sich mein Gesicht zu einer Grimasse verzerrte. Sie hatte Tränen in den Augen. Meine arme Kleine! „Es geht ganz schnell! Ich entnehme die reifen Eizellen durch die Scheide“, sagte DER WEIßE KITTEL. Unter Narkose gelang es ihm 15 Eizellen zu bergen. Im Labor verschmolzen die Eizellen mit dem Samen. Wir entschieden uns für einen Spender, der zwar seinen Namen preisgab, aber keine Begegnung mit dem Kind wollte. Wir wollten ebenfalls keinen Kontakt. Unser Kind würde mit 18 Jahren selbst entscheiden, aber war das nicht feige?

Der Spender war Däne. Das gefiel uns. Wir suchten nach dänischen Namen für unser Kind. 13 Eizellen erreichten das Vorkernstadium. Lillith, Kerstin, Ben, Inga, Ole, Marie, Lasse, Mia, Linus, Rasmus, Lilli, Mads und Ida. Es war das Anfangsstadium der Befruchtung. Aus den Keimzellen bildete sich der Vorkern. Er enthielt den halben Chromosomensatz meiner Frau. Zur anderen Hälfte den des Spenders. Ich war genetisch nicht an unserem Kind beteiligt. Ob mich das störte? Nein! Ich war nicht darauf aus, meine Gene fortzupflanzen. Ich wollte Mutter sein. Es war immer klar, dass meine Frau unsere Kinder bekommt. Wir fanden es beide eher befremdlich, wenn heterosexuelle Frauen begeistert ausriefen: „Oh wie toll, wenn Ihr lesbisch seid, dann könnt ihr ja immer abwechseln ein Kind bekommen oder noch besser, beide gleichzeitig! Und zusammen auf der Couch liegen. Euch über eure Wehwehchen austauschen und das erste Jahr gemeinsam in Elternzeit verbringen!“ Geradezu verstörend waren Bemerkungen, wie: „Warum tut ihr euch das mit der künstlichen Befruchtung an? Einmal mit ‘nem Kerl in die Kiste zu hüpfen, da ist doch nichts dabei! Ist doch für einen guten Zweck, haha.“ Ich war solche Bemerkungen seit meinem 17 Lebensjahr gewohnt, als ich meiner Mutter anvertraute: „Ich stehe nicht auf Jungs, ich liebe Mädchen.“ Völlig unvermutet traf sie mich mit einem Messerstich direkt ins Herz, als sie antwortete: „Mir wär’s lieber, du wärst tot.“ Später versuchte sie sich zu rechtfertigen, indem sie sagte: „Ich dachte, dass ich niemals ein Enkelkind bekäme.“ Die Wunde verheilte bis heute nicht, aber war meine Mutter nicht auch irgendwie zu verstehen?

Zwei befruchtete Eier setzte DER WEIßE KITTEL in die Gebärmutter meiner Frau ein. Sie war bei Bewusstsein. Ich hielt ihre Hand und wir verfolgten alles auf einem großen Monitor, der direkt unter der Decke befestigt war. Es waren zwei prächtige Achtzeller. Ida und Linus. Sofort durchströmte uns ein Gefühl der Rührung und Liebe. Ich redete mit ihrem Bauch wie zu einem Baby. Der Bluttest zeigte, dass Ida und Linus es nicht geschafft hatten. Trauer. Meine Frau hatte unsere Babys verloren… Einen Zyklus später, erneuter Versuch. Nach einem halben Monat Spritzen in den Bauch: grüne, gelbe und blaue Färbungen. Sie verliefen ineinander. Der Künstler hatte keinen Platz mehr auf der Leinwand, um weitere Farben aufzutragen. Meine Frau brach ab. Sie hatte Albträume. Angst, dass es wieder nicht geklappt hätte. Das Gefühl, die Hormone machten sie depressiv. Ich arbeitete viel. Meine Frau versuchte es wieder. Elf befruchtete Eier hatten wir einfrieren lassen. Lillith, Kerstin, Ben, Inga, Ole, Marie, Lasse, Mia, Rasmus, Lilli und Mads. DER WEIßE KITTEL taute vier Eier auf. Kerstin, Ben, Inga und Ole. Die beiden vitalsten setzte er ein. Inga und Ben. Was wurde aus Kerstin und Ole? Mord? Die Chancen bei aufgetauten Eiern waren geringer. Wir machten uns große Hoffnungen. Schwanger! Wir sollten ein Baby bekommen. Ein BABY! Inga hatte es geschafft, Ben nicht. Wir trauerten um Ben und sorgten uns um Inga. […]

Dank an Christian Gruber!

Die vollständige Geschichte erscheint in einem Buch.