Es ist aufregend! Mega aufregend, es kribbelt in meinem Bauch vor Freude, ich liebe den Geruch frisch gedruckter Bücher, die Medien überschlagen sich mit Berichten über tolle, eloquente, erfolgreiche, interessante, neue Werke und Autor:innen…
Ramin und Tilda besuchen die Buchmesse vom 27. bis 30. April 2023 in der neuen Leipziger Messe!
Ramin und Tilda erscheinen im kalten, verregneten November, passend um mit ihnen gemütlich vorm Feuer in eine Decke gewickelt zu lesen und sich dabei an einem Heißgetränk festzuhalten. Aber jetzt ist Frühling und Ramin und Tilda wollen raus!
Es ist die erste reguläre Leipziger Buchmesse nach der Pandemie und ich freue mich wie verrückt über dieses Event!
Als Kind träumte ich von Messen, mit all den farbigen Büchern, wenn ich die Nachrichten im Fernsehen sah. Ich spielte Buchladen und legte besonders gern die bunten Cover von Jan und Julia in mein „Schaufenster“.
Dass ich selbst mal ein Buch auf der Leipziger Messe ausstellen würde, schien mir als Kind so wahrscheinlich, wie den Mond zu betreten…
Bild: Lykka Kühne
Einen Monat vor der Messe denke ich: „So langsam könnte ich was vorbereiten.“ Doch der Verlag schläft wie Dornröschen und Ramin und Tilda sind auch nicht recht in Schwung.
Meine Tochter, die mich als kleine Illustratorin am Wochenende begleitet, ist gestresst und stöhnt: „Och Mama, ich habe auch so schon genug zu tun…“
Es ist voll! Mega voll, überquellend, ausufernd, erstickend, erdrückend, auseinanderberstend, deprimierend voll. Deprimierend? Wieso das denn? Ist doch cool, dass das Buch so gefeiert wird! Hmmm, aber Ramin und Tilda, mein Verlag und ich scheinen in dem Gedränge völlig unterzugehen…
Rund 270 000 Lesehungrige besuchen die Messe 2023!
Foto: Leipziger Messe GmbH/ Tom Schulze
Ich verliere mich in den unendlichen Dimensionen der Menge, fühle mich klein, winzig, unbedeutend, der Willkür ausgeliefert. Hilfe, es ist ein Gefühl, als ob ich zwischen den wabernden Massen, die sich durch die Gänge schieben, ertrinke!!! Es surrt und summt, strömt ein und aus, wie in einem Bienenstock, die Individuen lösen sich auf, bilden ein Ganzes…
Das Angebot an Lesungen, Signierstunden, Schreiblaboren, Buchdruck-Workshops, Fotokursen, Podcast-Schulungen oder Upcycling-Seminaren ist riesig, selbst für Kinder…
#verlagegegenrechts
Klingt nach der Euphorie eines Festivals? Absolut! Die Leute tragen schrille Kostüme ihrer Lieblingscomicfiguren, Neytiri aus dem Film Avatar ist immer wieder zu sehen, Masken aus Ghostrider, League-of-Legends, Ganzkörper Drachenkostüme oder Bodypaintings…
Es ist heiß! Mega heiß, wie in der Sauna, Kreislauf schwächend, es dürstet mich.
An den Rändern der Messehallen wuchern die Lager der Erschöpften, quillen zu den Türen hinaus ins Freie vor die Messehallen, hingegossen und zerflossen strecken die geschlagenen Superhelden alle Viere von sich.
Unter den Perücken rinnt der Schweiß und spült die kunstvollen Makeups fort.
#buchbar
Zwei Pikachus liefern mittendrin eine aufmunternde Show, tanzen umeinander, rennen voreinander weg, aufeinander zu und fallen sich schließlich in die Arme. Die Schlangen vor Toiletten, Getränke- und Essenständen winden sich endlos zwischen den Lagern. Die Besucher sind überwiegend jung, Mitte zwanzig, die Älteren verlieren sich zwischen ihnen…
Die Geschichte der Leipziger Buchmesse hat eine lange Tradition und reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück.
#mangacomiccom
Es sind viele Freaks dabei! Ganz eindeutig Freaks, sie schleppen Unmengen an Schwertern, Flügeln, Hüten, Kostümen und Büchern in riesigen Beuteln, Taschen und Tüten. Besonders beliebt sind Überraschungsboxen, wie die von den Drei ???. 30 Euro, für einen enthaltenen Warenwert von 40 bis 50 Euro. Sie kaufen gleich fünf bis zehn auf einmal und packen sie noch an Ort und Stelle aus. Sie stehen dafür stundenlang an, ebenso für Bücher, um diese signieren zu lassen und Fotos mit den Autor:innen zu schießen.
Es sind die Begegnungen! Mega Begegnungen, wie mit einem jungen französischen Pärchen, das nach Deutschland trampte und das wir ein kleines Stück mitnehmen…
#vwbus
Die Begegnung mit einer 60-Jährigen, die ironisch distanziert über die DDR erzählt. Sie sagt: „Ich werde immer gefragt, wer zum Teufel bloß in diesen hässlichen Plattenbauhochhäusern wohnen wollte… Na, alle! Da gab es Strom und fließend Wasser! Das war für viele ein irrer Fortschritt. Studenten zahlten damals 10 Mark für eine Wohnung.“
Begegnungen mit Studen:tinnen die Workshops gestalten, wie Nuria Glasauer, die Journalismus studiert und für das Junge Literaturinstitut zum Thema „Spiegel“ eine Schreibwerkstatt gestaltete.
hallo@junges-literaturinstitut.de
Die Begegnung mit Student:innen, mit denen wir uns einen Tisch im Vapiano beim Pizza essen teilen, weil es so voll ist. Ich habe nie so oft in meinem Leben das Wort „heiß“ gehört. Der Kellner ist heiß, die Oberarme eines Schauspielers sind heiß, der Sänger einer Band ist heiß, obwohl er nicht singen kann, feministische Männer sind grundsätzlich heiß, obwohl Feministinnen niemals heiß sind…
Die Begegnung mit einem Verlag bei dem Kinder Bücher machen. Buchkinder Leipzig e. V. erhielt den Sächsischen Verlagspreis 2022 vollkommen zu Recht.
Der Buchkinder Verlag begleitet Jugendliche und Kinder auf ihrem Weg sich auszudrücken, eine Geschichte zu erfinden und schließlich ihr Buch in der vereinseigenen Buchmanufaktur zu drucken.
Kleine und große Illustratorin! Lykka Kühne mit Manuela Uebelhart aus Zürich.
manuela.uebelhart@gmail.com
Begegnungen mit Schriftstellern! Schriftsteller machen die Buchmesse zu einem Fest, wie Tania Rupel Tera. Mit 35 Jahren sprach die Malerin und Schriftstellerin kein Wort Deutsch. Heute stellt sie in Bildern, Gedichten und Büchern den Menschen und sein Inneres, seine verborgenen Gefühle, Ängste und Wunden in den Mittelpunkt – auf Deutsch!
Tanja Rupel Tera kommt aus Sofia, Bulgarien. Sie ging wegen der Liebe nach Deutschland.
Es ist Leipzig! Die Stadt hat eine lange Tradition, etwa mit Johann Sebastian Bach und der Thomaskirche mit dem Thomanerchor, der Geist der friedlichen Revolution von 1989 ist fühlbar, es ist eine quirlige, junge Stadt mit knapp 40 000 Studenten und eine Kreative, mit vielen Künstlern, wie einst Goethe…
Leipzig ist mega, der Lonly Planet empfiehlt sie als Nummer eins der Städte Deutschlands, die man gesehen haben muss und auch die New York Times schrieb, dass man Leipzig nicht verpassen dürfe!
Bildidee: Lykka Kühne
Zu einem Goethe gewidmeten Denkmal, höre ich folgende Geschichte: Während seiner Studienzeit als junger Mann, befand Goethe sich in vornehmer Gesellschaft und bekam vom Sohn der Gastgeber eine Wette vorgeschlagen, dass wohl selbst er, als Dichterfürst Deutschlands, aus folgenden beiden Wörtern keinen Reim bilden könne: „Haustürklingel“ und „Mädchenbusen“. Goethe nahm die Wette an, zog sich einige Minuten zurück und dichtete:
„Die Haustürklingel an der Wand, der Mädchenbusen in der Hand sind beides Dinge wohl artverwandt. Denn, wenn man beide leis‘ berührt, man innen drinnen deutlich spürt, dass unten draußen einer steht, der sehnsuchtsvoll nach Einlass fleht…“ #JohannWolfgangvonGoethe
Tilda ist zehn Jahre alt, stumm und hat keine Freunde. Ein Schweigegeist ist ihr ständiger Begleiter. Er lebt von ihrer Angst. Der zehnjährige Ramin entdeckt Tilda auf dem Schulhof. Er hat auch keine Freunde. Seit seine Eltern flüchteten, müssen sie ständig umziehen. Doch Ramin ist kein bisschen schüchtern! Er geht auf Tilda zu, hält ihr die Hand hin und bietet ihr die Freundschaft an. Tilda kann immerhin nicken. So gehen sie gemeinsam nach der Schule zu Ramin. Dort werden die Kinder überrascht und ihre Freundschaft auf die Probe gestellt…
Ein paar Tage, nachdem sich Ramin und Tilda das erste Mal begegneten, wartet Ramin morgens vorm Schultor auf Tilda. Er hält etwas in beiden Händen und umschließt es fest. Er lächelt, als er daran denkt, wie er auf die Idee kam, sich so mit Tilda zu verabreden… Ramin und Tilda (2022), S. 36.
TRAILER: Ramin und Tilda (2022) gesprochen von Anke Kühne
Meine Tochter bastelte mir zum Geburtstag ein Heft und fragte:
„Mama, schreibst du auch mal ein Buch für Kinder?“
Lykka Kühne zeigt in ihren Illustrationen, wie sie sich fühlte, als sie ihren eigenen Schweigegeist als 4-Jährige erfolgreich vertrieb.
Ramin fragt: „Freunde für immer?“ Tilda nickt. Sie schaut Ramin in die Augen. Dann sagt sie laut: „Freunde auf ewig!“ Ramin und Tilda (2022), S. 60.
Illustration: Lykka Kühne
HÖRPROBE: Ramin und Tilda (2022), S. 18ff.
gesprochen von Anke Kühne
Anke Kühne absolvierte ihren Master in Geographie, Politik- und Medienwissenschaften. Schreiben lernte sie an der Deutschen Fachjournalisten-Schule. Sie arbeitete für GEOkompakt, die Kieler Nachrichten und das Umweltbundesamt. Sie hat eine Tochter und zwei Söhne.
Heute schreibt Anke Kühne als freie Autorin, veröffentlicht Bücher wie „Glaube, Liebe, Hoffnung“ und arbeitet an Erzählungen sowie Romanen.
Warum das Buch vier Mal zu Weihnachten verschenkt?
DANK: an Saskia Lorenz fürs Korrekturlesen; an Sandra Aichlseder für die fachliche Beratung zum Schweigegeist; an Yasmin Nazari-Shafti für die arabischen und persischen Sprachkenntnisse sowie die muslimischen Redewendungen.
@Kristoff Kühne: Danke für Deinen unverwüstlichen Optimismus!
ENSTEHUNGSGESCHICHTE: Auf einer Fahrt durch Schweden hatte ich die Geschichte plötzlich im Kopf. Auf der Rückbank im Auto sitzend, schrieb ich erst mein Notizbuch voll, dann auf Knäckebrotpapier weiter…
… und schließlich auf einer Tüte, die wir während einer Pause in Waynes Coffeeshop erhielten!
Tilda ist zehn Jahre alt, stumm und ausgegrenzt, weil ein Schweigegeist auf ihrer Schulter sitzt. Sie ist extrem schüchtern und leidet an Mutismus. Die Kommunikationsstörung ist dem Autismus ähnlich und wird oft nicht richtig erkannt. Sie tritt meist mit einer Sozialphobie oder Angststörung auf.
Es sind größtenteils Kinder von Mutismus betroffen, darunter häufiger Mädchen.
HÖRPROBE: Ramin und Tilda (2022), S. 18ff
gesprochen von Anke Kühne
Der dicke Schweigegeist auf Tildas Schulter, trägt einen blauen Turban und einen Lendenschurz. Sonst ist er nackt… Tildas Vater übernimmt den Typus eines, unter therapeutischen Gesichtspunkten, idealen Elternteils: Er ist offen, der Therapeutin zugewandt und lernwillig.Die Logopädin ist auf die Behandlung mutistischer Kinder spezialisiert. Tilda durchläuft den idealtypischen Verlauf einer Heilung.
Der Schweigegeist futtert Tildas Angst. Sie schmeckt für ihn wie Zuckerwatte. Je größer Tildas Angst, desto dicker wird der Schweigegeist…
Tildas Genesung wird im Zusammenspiel zwischen Eltern und Therapeutin möglich, vor allem aber durch den ersten Freund in Tildas Leben: Ramin.
Tilda schafft es, Ramins Familie von einem weiteren Umzug abzuhalten. Die Freundschaft der Kinder vertreibt den Schweigegeist…
Ramin ist ein zehnjähriger Junge, der mit seiner Familie aus Afghanistan flüchtete. Die Familie gehört einer stark verfolgten muslimischen Minderheit an.
Sie waren an der Nordsee. So etwas kannte Ramin gar nicht. […] Diese scheinbar endlose Weite… Er fühlte die Freiheit. Sie schien ihn richtig zu packen! […] Er atmete tief die salzige Luft ein. Er hörte das Donnern der Wellen. Er lauschte dem Kreischen der Möwen. Er spürte, wie der Wind stürmisch sein Gesicht streichelte und ihm die Haare zerzauste. Er schloss die Augen, breitete die Arme aus und lächelte. Ramin und Tilda (2022), S. 38
Ramins Eltern verloren in ihrer Heimat alles, bangten um ihr Leben und sind traumatisiert. Obwohl seine Familie in Deutschland in Sicherheit lebt, leidet sie unter posttraumatischen Belastungsstörungen.
Gemeinsam verscheuchen Tilda und die Logopädin Susanne den Schweigegeist. Tildas Freund Ramin hilft dabei. Und Papa, mit seinem unerschütterlichen Optimismus…
Ramins Familie begegnet Menschen, die ihnen gegenüber nicht tolerant sind. Für Ramin und seine Geschwister fanden noch keine Freunde in Deutschland. Die Eltern leben isoliert und haben sich damit abgefunden.
Ramin trifft Tilda auf dem Schulhof. Er erkennt sofort, dass das Mädchen sehr schüchtern und einsam ist. Vorsichtig nähert er sich ihr…
Ramin ist unerschrocken und lässt sich weder von Tildas Sprachlosigkeit, noch ihrer abweisenden Körperhaltung beeindrucken. Er redet offen über Tabus. Langsam öffnet sich Tilda. Der Junge bleibt am Ball. Als sie gemeinsam nach der Schule zu Ramin gehen, treffen sie dort auf ein großes Durcheinander.
Manchmal glaubt Tilda, der Schweigegeist erdrückt sie. Zum Glück gibt es Susanne! Sie liebt es Schweigegeister zu vertreiben…
Illustration: Lykka Kühne
LESUNGEN: Anfragen unter: contact@ankekuehne.com
Ich lese diesen Winter an Hamburger Schulen sowie in anderen Städten Deutschlands und Österreichs.
Bei Ramin Zuhause, sind die Hühner der Familie tot und überall ist Blut. Die Mutter ist retraumatisiert, der Vater psychisch labil, die Geschwister leiden unter dem Druck der Verantwortung, den sie ihren Eltern gegenüber verspüren.
Lykka Kühne vertrieb als Vierjährige selbst erfolgreich einen Schweigegeist! In ihren Bildern drückt sie aus, wie sie sich dabei fühlte.
Bild: Lykka Kühne
Tilda nimmt all ihren Mut zusammen: Es gelingt ihr, in Gegenwart Fremder zu sprechen. Die Familie spürt dank des Mädchens zum ersten Mal in Deutschland Frieden.
Ramin fragt: „Freunde für immer?“ Tilda nickt. Sie schaut Ramin in die Augen. Dann sagt sie laut: „Freunde auf ewig!“ Ramin und Tilda (2022), S. 60.
Das Buch erschien am 21. November 2022 im novum Verlag.
I hold a master’s degree in geography, political science & media studies. I learned to write at the DFJS. I worked for GEO, the KN & the UBA. Today I write as a freelance author & publish books such as „Ramin & Tilda“.
Meine Tochter schenkte mir zum Geburtstag ein selbstgebasteltes Heft.
Sie fragte: „Mama, schreibst du auch mal ein Buch für Kinder?“
Ich schenkte meiner Tochter ein Kinderbuch zum 8. Geburtstag…
Ist zu den Themen Glaube, Liebe und Hoffnung nicht schon alles gesagt? Als ich Kind war, unterhielten sich die Leute anders darüber, als heute. Es gab zum Beispiel noch Gott, dessen waren sich nicht nur Herman Hesse und Johannes Rau sicher, sondern auch Queen und Nirvana. Die Leute unterhielten sich in anderen Netzwerken. Liebe existierte hauptsächlich zwischen Mann und Frau sowie Eltern und Kindern…
IT’S DONE! TWO AND A HALF YEARS. A HUNDRED TALKS. MY BOOK!!!
Heute gibt es Liebe zwischen und zu allen Geschlechtern, mit und ohne Kinder, es gibt Patchworkfamilien, Alleinerziehende sowie ewige Junggesellen… Und die Liebe zu Vereinen ersetzt so manchem die Liebe zu Gott!
Auf jeden Fall ist das Leben bunter, vielfältiger, globaler, schnelllebiger und aufregender, als es noch während meiner Kindheit war. Grund genug, mir ein paar unterschiedliche Lebensentwürfe genauer anzuschauen…
Als ich vor über zwei Jahren mit meinem Projekt begann, ahnte ich nicht, wie groß es würde. Mein Ziel war es, verschiedene Leute, aus diversen Ländern und mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen zu interviewen. Es war schwierig, Menschen dafür zu gewinnen, dennoch bekam ich tolle Inteviewpartnerinnen und -partner. Mit allen Leuten, die ich in diesem Buch vorstelle, stehe ich bis heute in Kontakt und fühle mich dadurch reicher.
Es entstanden sogar Freundschaften. Eine davon zu der vierfachen Mutter Inga Deveze – sie ist gebürtige Hamburgerin – doch erst jetzt, da wir auf verschiedenen Kontinenten leben…
In unserer Kultur, gaukeln wir uns oft vor, dass wir glücklich sind, wenn wir reich, schlank, jung und berühmt sind sowie uns permanent amüsieren. Aber fühlen die Menschen das auch so? Oder spielen sie das Spiel einfach nur mal mehr, mal weniger engagiert mit?
Lieber Bernd, ich verehre, liebe, bewundere Hermann Hesse! Aber dieses Buch kannte ich noch nicht, danke! Vielleicht begegnen wir uns eines Tages? Ich freue mich, dass mein Buch gefiel 🙂
Ich suchte immer wieder das Gespräch und fand erstaunliche Antworten. Der Fokus lag dabei auf dem Menschen. Ich guckte mir seine oder ihre Wünsche, Träume und Ziele an. Anfangs wollte ich alle Interviewpartnerinnen und -partner zu jedem Themenbereich befragen. Das wäre jedoch entweder zu umfänglich gewesen oder von allem nur ein bisschen übriggeblieben. Daher entschied ich mich, lieber in drei Kapiteln, zu je einem Themenbereich in die Tiefe zu gehen. Die jeweils anderen Bereiche streifte ich am Rand, um am Ende ein ganzheitliches Bild zu erhalten.
Zum Schluss konnte ich mir aussuchen, welche Geschichten ich in meinem Buch veröffentlichen will. Manchmal entschied ich mich nach dem Vorgespräch, einige Male erst ganz am Ende… Ein paar Interviews wären zu ähnlich gewesen!
Als ich mit den Interviews begann, stellte ich schnell fest, dass den meisten Menschen das Thema „Religion“, „Glaube an Gott“ und damit verbundene Themen, wie „politischer Weltfrieden“ unangenehm war. Ich hörte Kommentare wie: „Zum Thema Glaube möchte ich mich nicht äußern, das ist vergiftet.“ Und in der Balkanregion: „Das ist ein neues, heißes Thema, an das sich bisher keiner rantraut. Ich sage daher zwar gerne meine persönliche Meinung, möchte sie aber auf keinen Fall veröffentlich haben…“ Aha!
Was hat am Besten gefallen?
B.B. Musikerin & Mutter einer Tochter
Ich bekam eine wirklich lange Zeit keine Interviewpartnerinnen und -partner, die sich öffentlich zum Thema Religion äußern wollten.
Viele hatten Angst vor Anschlägen, so wie Deutsche jüdischen Glaubens. Muslime wollten sich gar nicht äußern.…
Ich hätte es an dieser Stelle lassen können. So wichtig war mir das Thema anfangs gar nicht. Ich wollte mir nur den Wandel des Glaubens in der Gesellschaft genauer anschauen, weil immer mehr Menschen in Deutschland aus der Kirche austreten und dafür ihre eigene Religion entwickeln. Aber nun war ich angefixt. Als ich den ersten Blog zum Thema Religion auf meiner Website postete, genauer zum Buddhismus, erhielt ich Kommentare, die mich bestätigten. Ich arbeitete weiter. Nur mit Menschen muslimischen Glaubens kam ich überhaupt nicht voran. Immer wieder sagten mir spannende junge Iranerinnen, die ihren Glauben offen nach außen trugen, in dem sie sich verschleiern und die nach Schule, Studium oder Ausbildung ihre Familie im Iran gründen wollen, kurzfristig ab. Bis ich einer sehr selbstbewussten Deutsch-Iranerin mit starken persischen Wurzeln begegnete: Yasmin Nazari-Shafti.
Bei den Gesprächen passierte etwas Unglaubliches, das ich trotz zahlreicher Interviews, die ich bereits als Journalistin führte, nicht kannte und für das ich unendlich dankbar bin:
„Die Menschen öffneten mir ihr Herz. Ich konnte wahre Schätze bergen. Ihr Vertrauen rührte mich.“
Foto: Kristoff Kühne
Ich leistete eine Menge Arbeit und erhielt reichlich Belohnung. Ich erfuhr einige harte Lektionen und durchlebte viele Veränderungen. So passt es beispielsweise zu meiner Vorstellung eines Weltfriedens nicht mehr, sich einer Glaubensrichtung zu verschreiben. Ich bin für alle Glaubensrichtungen offen. Daher gehören meine drei Patenkinder in Afrika alle unterschiedlichen Religionen an. Es macht mich stolz und glücklich, sie groß werden zu sehen. Unser erstes Patenkind hatten wir bereits vor der Geburt unserer Tochter. Es wurde von seiner Kinderdorfmutter adoptiert, als diese in Rente ging. Und es macht unendlich traurig, wenn eins stirbt, wie die kleine Kabagire in Mosambique. Sie starb an nichts. Es war einfach nur Durchfall. Seit ich selbst Kinder habe, zerreißt es mir noch mehr das Herz. Aber es zeigt mir, wie wichtig es ist, dranzubleiben.
Das letzte Gespräch führte ich mit dem streng gläubigen Shahab Ud-Din. Er hat eine wichtige Funktion in der verfolgten muslimischen Ahmadiyya-Gemeinde.
Die Menschen in meinem Buch setzen unglaubliche Kräfte frei, weil sie lieben. Nach meinem Post Close to Heaven auf Instagram, in dem ich darüber schreibe, wie sich eine Brustkrebskranke Mutter von ihrer kleinen, vierjährigen Tochter verabschiedet, bekam ich zu hören: „Angesichts dieses schlimmen Schicksalsschlages müssen wir doch sehr dankbar für unser Leben inmitten unserer gesunden Lieben sein“. Ja, bitte gerne. Aber das ist es nicht, was ich zeigen will. Weil es nicht das ist, was ich erlebte. Diese Menschen brauchen kein Mitleid! Diese großartigen Leute leben vor, wie sie die Liebe durch ihre Schicksalsschläge trägt. Wie Liebe sie wachsen und reifen ließ. Wie Liebe sie unendlich Großes, Reines, Mutiges, Selbstloses, ja Göttliches schaffen ließ.
„Heute ist es selten, dass sich jemand mit dem Thema Gott & Religion auseinandersetzt. Ich freue mich jedes Mal wenn ich mich mit Gläubigen austauschen kann, egal welcher Glaube. Tolles Interview & sehr schönes Thema.“
Obwohl sich während der Arbeit an meinem Projekt vieles für mich änderte, behielt ich die gleichen Werte, die mich schon mein ganzes Leben tragen: der Glaube, dass sich etwas Göttliches in jedem Menschen finden lässt; die Liebe, die unbesiegbar macht und die Hoffnung, die uns alle Grenzen überwinden lässt. Ich schreibe seit mittlerweile 20 Jahren Texte. Ich begann als Kind mit meinem Tagebuch und schrieb meiner imaginären Freundin Kitty. Ich verfasste Schulaufsätze und gewann Wettbewerbe. Ich arbeitete als Studentin in Redaktionen und schrieb Reiseberichte. All meine Texte entstehen aus der gleichen Motivation: Ich möchte berühren.
Ich erhielt tolles Bildmaterial und hatte die Idee, das Buch im Magazin-Style zu verfassen. Als das Projekt ins Stocken geriet, war Raziq Ahmad Tariq mein Retter und finishte es. Die USA wählte ich als Land der Hoffnungen aus, als ich mit meiner Familie im Sommer 2018 für drei Monate im Wohnmobil durch Kanada und die USA reiste… Ich sprach mit osteuropäischen Studenten, die als Summerjobber Geld in den USA verdienten, um sich den Traum vom Reisen durch die Vereinigten Staaten zu erfüllen. Und immer wieder traf ich ganz unterschiedliche Menschen, die von Nordamerika träumten, darauf hofften, sich danach sehnten und ihre Zukunft dort sahen oder sie zumindest für einen Sommer damit bereichern wollten. Und letztlich suchten ja auch wir dort nach der großen Freiheit…
„Es ist unglaublich, was die Liebe zu leisten vermag. Und tröstlich, dass es möglich ist. Wir brauchen nicht länger vor Schicksalsschlägen Angst zu haben. Wir können vertrauen. Dass die Liebe uns tragen würde. Dass sie uns stark macht. Dass sie uns alles schaffen lässt. Dass sie uns unbesiegbar macht.“
Ich hoffe, das wunderbare Gefühl der Verbundenheit, das ich empfand, als ich die Interviews führte, ist beim Lesen spürbar, egal, wie unterschiedlich die Menschen in diesem Buch nach ihrem Glauben, ihrer Art zu lieben, ihrer Herkunft, ihrem Alter, ihrer persönlichen Situation und Lebenserfahrungen, ihrem Familienstand, ihren Vorlieben, ihren Zielen und ihrer Bildung nach auch sind. Die Wertevorstellungen und Träume sind sich oft sehr ähnlich… Alle sehnen sich nach Verbundenheit, Freundschaft, Liebe und Frieden. Ich habe wahnsinnig viel gelernt, indem ich für dieses Projekt einmal alles was zur Entstehung eines Buches gehört, einschließlich dessen Druckes, durchgemacht habe… Es war schrecklich schön. Und ich kann mir nicht vorstellen, das noch mal zu tun… Aber ich weiß jetzt, worauf es ankommt und das war’s wert!
Viel Spaß beim Lesen!
Interviews: Subhransu Mahapatra, Shahab Ud-Din, Dr. Steffen Storck, Frau Sharafian, Christian Böhner, Crisolita Evora Lima Rodrigues Tavares, Yasmin Nazari-Shafti, Dan, Dr. Hartmut Treu, Armin Sengbusch, Eva-Maria Esken, Christian Gruber, Mirjam E., Chaly (Peter Marsal), Jonas Gabriel, Denis Dimitrov, Melody Gilbert, Aleksa Krstic, Wiebke Schwartau, Damian Skrzypczak, Natalia Chicu, Bailey Garfield, Inga Deveze, Tatjana, Sebastian Göbel Grafikdesign: Madeleine Möhlmann, Raziq Ahmad Tariq Korrektorat: Amélie Gloyer ISBN: 978-3-00-070125-2
Liebe K. M.! Herzlichen Dank für das tolle Buch, ich bin nachhaltig beeindruckt!!! Dostojewski schrieb es vor über 150 Jahren und ist moderner als viele Politiker heute… Sprachlich ist es sperrig und brillant. Mir war diese russische Epoche bislang unbekannt, ich habe viel gelernt. Meine Antwort auf die Frage: Ich glaube an die Liebe!
Mein bisher zauberhaftestes, wunderbarstes, herzallerliebstes, zuckersüßestes, megageilstes Feedback! @Madhusmita
@Café Luise: Welch köstliche Überraschung! Für solch einen Tortentraum schreib‘ ich noch 1000 weitere Bücher! https://www.cafe-luise-baeckerei.de/
TRUE LOVE MATTERS Interview mit Crisolita Tavres in GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG „Die Menschen auf der Welt haben nicht dieselbe Hautfarbe, sprechen nicht dieselbe Sprache und leben nicht nach denselben Bräuchen, doch sie haben alle das gleiche Herz, das gleiche Blut und das gleiche Bedürfnis nach Liebe.“ Josefine Baker (1906-1975) amerikanische Tänzerin #starkefrauen
An ihren Unis in Osteuropa sind sie die künftigen Banker, Journalisten und Politiker – in Amerika sind sie nur „die Hilfe“
Melody Gilbert ist eine US-amerikanische Journalistin, Dokumentarfilmerin und Professorin. Seit Herbst 2019 lehrt sie in Vollzeit an der Universität in Natchitoches, Louisiana. „Ein neues Abenteuer! Ein neuer Ort, mit neuen Geschichten“, sagt sie lachend. Auf die Frage nach ihrem Alter antwortet sie: „Gut, ich bin 61, aber es fühlt sich sehr seltsam an, das laut auszusprechen! Ich fühle mich wahrhaftig nicht einen Tag älter als 40!“ Sie studierte Soziologie und Französisch an der Tulane Universität in New Orleans. Ihren Master absolvierte sie an der University of Minnesota. „Nebenbei gesagt: ich bin nie auf eine Filmschule gegangen und habe nie Journalismus studiert. Und beides lehre ich jetzt schon seit mehr als 20 Jahren!“ Sie spreche Englisch und ganz passabel Französisch. Sie wünschte, es wären mehr Sprachen. Seit 31 Jahren ist sie verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Sie kennt die Hoffnungen junger osteuropäischer Studenten, die sie vier Jahre lang an der Amerikanischen Universität in Bulgarien (AUBG) als Vollzeit-Professorin unterrichtete. In ihrem Dokumentarfilm „The Summer Help“ beleuchtet sie die Träume einiger ihrer Studenten genauer.
„Der Doc Club gehörte zum besten meiner Professur an der Uni in Bulgarien – ich sah mit meinen Studenten Dokumentationen, traf Filmemacher und besuchte Filmfestivals. Igor Myakotin half beim Film The Summer Help. Nach seinem Bachelor ging er an die Filmschule in New York. Dumitrita Pacicovschi war Produzentin bei Silicone Soul.
Foto: Keri Pickett
Sie arbeiteten 15 Jahre als Journalistin für’s Fernsehen, warum entschieden sie sich Dokumentarfilme zu drehen? Ja, ich arbeitete viele Jahre als Journalistin. Dann hatte ich es irgendwann satt, dass die TV-Studios keine längeren Geschichten bringen. Ich war frustriert diese ganzen kurzen Storys zu machen. Du fängst gerade mit einem Interview an und die Aufnahmeleitung stellt die Kamera ab und sagt: „Gut, das war‘s!“ (lacht)
Was war am Anfang das Aufregendste? Ich drehte erst einstündige Specials. Dann wurden es immer mehr längere Stücke und irgendwann realisierte ich: „Oh mein Gott, ich bin eine Dokumentarfilmerin!“ Als ich mich entschied selbstständig zu arbeiten, begann ich zu filmen. Ich produzierte, moderierte und führte Regie. Ich verfüge über eine komplette, eigene Ausrüstung. Das war eine verrückte Idee! Aber ich hab’s gemacht! Das war so eine aufregende Zeit!
„Ich bin eine kleine Frau, mit einer kleinen Kamera! Und nicht ein großer Mann, mit einer großen Kamera (lacht). Das Wirelessmikrofon war eine geniale Idee, weil ich es meinen Interviewpartner:innen auf diese Weise nicht direkt ins Gesicht halten muss. Ich kann einen gewissen Abstand halten. Das veränderte alles!“
Ist es ein typisches Zeichen für ihre Arbeit? Ja, ich denke schon. Gut, andere Leute machen augenscheinlich das Gleiche. Aber ich schätze, dass ich besonders gut darin bin, beobachtende, nicht wertende Filme zu machen – Dokumentationen.
Auf welche Weise charakterisiert es ihre Filme? Es bedeutet, dass ich Zeit investiere. Ich weiß viel mehr, als ich in meinen Filmen zeige und bewerte trotzdem nicht und gebe auch keine Antworten. Ich will eine Erfahrung davon geben, was ich erlebt habe. Nicht alles ist perfekt in meinen Filmen. In meinem Film „The Summer Help“ hätte ich viel mehr Urlaubsbilder präsentieren können. Das hätte eine gute Kameraperspektive sein können! Aber es wäre umsonst gewesen, weil die Welt nicht perfekt ist. Filme, die nicht perfekte Welten zeigen, mag ich. Ich strebe nicht an, eine großartige Kinofilmerin zu sein. Oder eine große Person im Filmbusiness.
Ich bin Journalistin! Ich bin Filmemacherin! Ich befinde mich außerhalb der Welt und beobachte Dinge (lacht).
Warum sind sie so interessiert an solchen Welten? Das ist eine gute Frage. Ich wünschte, ich wüsste die Antwort darauf… Ich bin es einfach. Stellen sie sich vor, es ist so wie auf ihrer Website: Sie sind auf einem Foto mit ihren beiden Freundinnen zu sehen, die sich bei ihnen unterhaken. Und eine der beiden sagt: „Oh ich habe davon gehört, dass es Leute gibt, die in diese Gebäude gegangen sind. Sie waren im Untergrund und haben ganz besondere Dinge gefunden.“ Einige Leute reagieren darauf mit: „Oh das ist ja schrecklich!“ Ich gehöre zu den Menschen, die sagen: „Das ist interessant! Erzähl mir mehr darüber.“
Wie finanzieren sie ihre Filmprojekte? Ich habe eine Kamera, ich muss für ein Shooting nicht fragen und auch sonst niemanden nach Zusagen oder Geld. Ich starte einfach, wenn ich etwas Interessantes erlebe. Ich denke, das ist es, was mir erlaubt, diese Dinge zu erleben. Ich bin neugierig. Und es hört sich so an, als ob sie es auch wären! (lacht)
Wo aus Deutschland kommen sie her? Aus Hamburg… Nein, da bin ich nie gewesen! Die Leute sind sehr offen, das liegt an dem großen Hafen, er bildet ein Tor zum Rest der Welt… Oh, das ist wunderbar, großartig, wir brauchen mehr davon!
Warum schockieren sie ihr Publikum immer mit ihren Filmen? Nein ich will mein Publikum nicht schockieren! Ich will es einfach nur auf die Reise mitnehmen, auf der ich war. Anfangs ist es auch für mich auf eine bestimmte Weise schockierend. Weil ich nie zuvor von bestimmten Dingen hörte. Da ist in meinem aktuellen Film Silicone Soul eine Person, die mit ihrem synthetischen Hund aus dem Haus geht. Und eine alte, demente Frau ist in eine Babypuppe verliebt. Es ist mehr: „Wow, das wusste ich nicht!“ Die Geschichten, die ich mache, sind nicht typisch. Viele Leute denken, Silicone Soul sei ein Film über Sexpuppen. Mal ehrlich: Wer will so einen Film sehen? Nur ein paar Leute. Es ist ein Film über Beziehungen, Liebe und die Zukunft. Sex kommt darin gar nicht vor.
„Finanziere meinen Film! steht auf einer Kerze neben dem Familienfoto mit meinem Mann und meiner Tochter am Strand. Aber es funktioniert nicht. Ich liebe die Kerze trotzdem.“
Mich schockiert nicht, dass Männer Puppen lieben. Es hat mich getroffen, wie einsam sie sind. Dass es keine menschliche Liebe in ihrem Leben gibt. Sie wirken so unglaublich verletzlich… Ja! Das stimmt. Wenn man das sieht, muss man ganz viel darüber nachdenken, in was für einer Gesellschaft wir leben. Es hält uns den Spiegel vor Augen und das trifft uns. Ich erzähle ihnen aber nicht die Geschichte. Die Leute im Film erzählen ihnen die Geschichte! Im Film The Summer Help ist es eine Geschichte, von der die Leute sagen, ich wusste das nicht. Die meisten in Europa kennen das Work-and-Travel. Sie haben es gemacht oder kennen Leute, die es machten. Aber ich wollte sehen, wie es aus der Perspektive der Studenten ist. Die Hauptpersonen in meinem Film repräsentieren viele Leute aus Osteuropa. Sie sind intelligent, sie sind unglaublich! Sie sprechen vier bis fünf Sprachen, sie sind die Cleversten aus ihrem Dorf, sie gehen ins Theater und studieren Journalismus oder Wirtschaftswissenschaften an der Universität, an der ich unterrichtete, der AUBG. Und im Sommer reinigen sie Toiletten in Amerika! Das macht mich absolut verrückt. Ich wollte herausfinden, inwiefern Amerika das Land ihrer Träume ist. Ich führte Interviews mit ihnen und begleitete die Studenten für ein paar Tage. Als sie zurück an ihre Uni gingen, guckte ich, wie sie sich verändert haben.
Warum entschieden sie sich, für vier Jahre an die Amerikanische Universität in Bulgarien zu gehen? Ich liebe Veränderungen und ich liebe die Herausforderungen, die sich mit Veränderungen ergeben. Ich liebe es, mit Studenten zu arbeiten, das macht mich glücklich.
Was hofften sie, als sie nach Bulgarien gingen? Ich bekam meine Idee für meinen Film The Summer Help, als ich die erste Woche an der AUBG unterrichtete. Ich fragte: „Was habt ihr im Sommer erlebt?“ Und fast alle von ihnen hatten den Sommer in den USA verbracht. Ich sagte: „Leute ich komme aus den USA, warum seid ihr dort gewesen?“ Und sie erzählten mir, dass sie an den Plätzen arbeiteten, an denen ich Urlaub machte. Ich wusste nicht, dass dort Studenten arbeiteten. Sie haben Jobs gemacht, die in den USA niemand machen will. […]
Das vollständige Interview ist in meinem Buch Glaube, Liebe, Hoffnung erschienen!
Maja, die verlorene Löwin sucht ihre Stimme – Mes Vacances
Flink klettere ich den Felsen hinauf. Vor mir hangelt Jule behände wie ein Äffchen. Gleißend reflektiert das Licht von den weißen Felsen. Ich kneife die Augen zusammen. Die Steine unter meinen Füßen und Händen brennen. Als ich oben auf dem Felsen ankomme, spüre ich den Schweiß auf meiner Haut. Ich stelle mich auf einen Vorsprung, halte kurz die Luft an, dann springe ich. Dabei stoße ich einen kleinen Schrei aus. Ich spüre ein Kribbeln im Magen und tauche tief in das smaragdgrüne Wasser des Felsbeckens ein. Als ich auftauche, läuft es mir in den Mund. Es schmeckt nach Sonnencreme, Haarshampoo und dem Salz meiner Haut. Ich atme die schwere, würzige Luft ein, in der ich einen Hauch Lavendel ausmache. Die Kinder, die hinter mir mit einer großen Fontäne ins Wasser krachen, kreischen begeistert. Sommerferien!
Meine Cousine und ich schwimmen den ganzen Tag in den Felsbecken der Schlucht. Zahllose französische Familien ziehen vormittags in fröhlichen Karawanen los. Sie sind bunt beladen mit Sonnenschirmen, Picknicktaschen und Handtüchern. An den unteren Felsbecken findet sich mittags kein Platz mehr, nicht mal für ein Handtuch. Jule und ich klettern weiter hinauf, dort ist es leerer. Ganz oben sind wir allein. Die Familien schaffen es mit ihrer Ausrüstung nicht bis dorthin. In der Mittagshitze, fällt uns das Atmen beim Klettern schwer. Doch das Kribbeln im Bauch beim Springen, das Glücksgefühl, wenn wir unten ankommen und das erfrischende Nass, berauschen uns. Wir klettern immer wieder hoch. Es ist ein Verlangen, zu springen. Bis wir völlig erschöpft sind. Dann legen wir uns überglücklich auf die heißen Steine und ruhen uns aus.
Wir genießen es, dass hoch oben niemand außer uns ist. Wir sind stolz darauf, dass wir waghalsiger von den Felsen springen, als die gleichaltrigen Jungs an den unteren Becken. Ab und zu springen wir nur deshalb dort unten, um ihre verdutzten Gesichter zu sehen. Wir fühlen uns wie furchtlose Abenteuer.
Jules Eltern, meine Tante und mein Onkel, freuen sich, dass ich sie begleite. Sie nehmen mich seit meinem zwölften Lebensjahr mit in die Sommerferien. Jules ältere Geschwister kommen nicht mehr mit. Sie machen alleine Urlaub mit den Pfadfindern oder fahren ins Sportcamp. Ich bin Klassenbeste und gleichaltrigen Kindern weit voraus. Jules Eltern wünschen sich, dass ihre Tochter so wäre wie ich, aber sich wenigstens für Bücher interessiert. Diese Ferien verbringen wir drei Wochen in einem kleinen französischen Dorf. Meine Tante will ihre kreative Seite ausleben, sie hat einen Töpferkurs gebucht. Wir machen einen Ausflug nach Avignon und besichtigen eine Ausstellung von Auguste Rodin. Ich bin wahnsinnig ergriffen. Seine Skulpturen sehen lebendig aus in ihrer Lebensgröße, aber das ist es nicht. Ich kann ihre Gefühle spüren. Beim Anblick des Le Penseur fühle ich dessen grüblerische Qual. Sie steht so sehr im Kontrast zu seinem starken, männlichen Körper, dass ich spüre, dass er für mentale Arbeit nicht geschaffen ist. Eine erotische Anziehungskraft hat der männliche Körper noch nicht. Das ist ein Mann. Ich bin 14 Jahre alt und stehe auf Jungs. Der Denker wirkt depressiv auf mich. Ich empfinde das als tröstlich, ich bin also nicht die einzige. Ich erlebte nie zuvor beim Anblick einer Statue den Eindruck, dass diese Gefühle haben. Bei Danaid rührt mich ihre Verletzlichkeit. Ich glaube ihre Anmut zu spüren und ihre Hingabe. Gleichzeitig fühle ich eine unendliche Verlorenheit. Ich bin selbst unsterblich verliebt und fühle mich angesichts der Ausweglosigkeit verloren. Er ist älter und will nach dem Abitur zum Studieren in eine Stadt sieben Autostunden entfernt ziehen. Außerdem macht es nicht den Anschein, er könnte in mich verliebt sein… Rodins Skulpturen drücken für mich aber noch mehr aus. Bei Le main de dieu spüre ich es am deutlichsten. Ich vermag es zunächst nicht zu fassen. Es ist ein Funke, der auf mich überspringt. Dieser lässt meine Seele strahlen. Ich spüre eine ungeheure Kraft von ihm ausgehend. Er erfüllt mich ganz. Jule lacht. Ihre Eltern heben die Augenbrauen. Ich spreche nicht wieder darüber. Wir bummeln nach dem Museumsbesuch durch die Stadt. Es findet gerade das Festival d’Avignon statt, ein Theater-, Tanz- und Gesangsfestival. Ich bin berauscht und weiß gar nicht wohin ich zuerst schauen soll. Ich habe so etwas noch nie gesehen: Pantomime laufen auf Stelzen, weit in den blauen Sommerhimmel ragend, durch die Stadt. Straßenkünstler malen mit Kreiden Gemälde von Vincentvan Gogh, Gustav Klimt und Claude Monet. Musikanten spielen Mozarts Kleine Nachtmusik. Eine Gruppe farbiger Franzosen in bunten Kostümen trommelt und tanzt. An Ständen bieten Menschen Kunsthandwerk feil: geklöppelte Tischdeckchen, Töpferware, Aquarellbilder, Silberschmuck, handgeschöpftes Papier… Es gibt ein wunderschönes, altes, hölzernes Kettenkarussell, damit wollen Jule und ich unbedingt fahren! Wir drehen eine Runde, dann noch eine und können nicht mehr aufhören.
Wir fliegen nebeneinander in den dämmrigen Abendhimmel, die ersten Sterne leuchten, es ist warm und riecht herrlich nach frisch gebrannten Mandeln. Wir halten uns an den Händen und fühlen uns glücklich und frei. Ferien!
Wir wohnen in einem alten, gelbgestrichenen Haus, dessen Fensterläden blau angemalt sind. Davor blühen pinke Rosen und lila Lavendel in Terracottatöpfen. Das Haus ist hoch, schmal und ein wenig schief. Ich bleibe andächtig mit meinem Koffer in der Hand davor stehen und kann mich nicht sattsehen. „Jule, das ist so romantisch, oder?“ bringe ich seufzend hervor. Meine Cousine ist schon nach drinnen gestürmt. Sie brüllt mir zu: „Annie, jetzt mach endlich, wir wollen unser Zimmer doch vor Mama und Papa aussuchen!“ Ich reiße mich los und gehe hinein. Der Raum ist winzig. In der Mitte steht ein großer, alter Tisch, drumherum Stühle, die Wände sind weiß getüncht, das wars. Ich sehe einen Durchbruch zur Küche. Eine Steintreppe windet sich hinauf, von dort schreit Jule: „Mama und Papa wollen das Doppeltbett, wir sollen das Zimmer mit den Einzelbetten bekommen. Das ist mir recht, wir haben einen Deckenventilator und sooooo romantische Moskitonetze über unseren Betten. Jetzt komm doch endlich mal!“ Ich steige die Treppe hinauf und betrete ein geräumiges Zimmer, das zugleich den Flur bildet. Ein Bett steht am Treppengeländer, das andere neben der Tür zum Elternschlafzimmer. Dazwischen prunkt ein antikes Frisiertischen mit dreiteilig-klappbarem Spiegel. Gegenüber liegt die Tür zum Bad. Jule springt Trampolin auf dem Bett, die Federn quietschen, sie wirbelt eine ordentliche Staubwolke auf und jauchzt. Ich öffne die Fensterläden und sehe auf eine wunderhübsche Dachterrasse, die eine Etage tiefer liegt. Das Haus liegt am Hang. Der Blick reicht weit über die hügelige Landschaft der Provence, die im Dunst der Dämmerung unendliche Lilaschattierungen hervorbringt. „Wow“, entfährt es mir, ich bin sprachlos! Die Terrasse ist von einer weiß getünchten Mauer eingefasst. In Kübeln wachsen üppige Pflanzen, ich kenne ihre Namen alle, da meine Mutter sie liebt und regelmäßig verzweifelt, weil sie im kühlen, deutschen Norden nicht gedeihen: Oleander, Hibiskus, Zitronen-, Orangen- und Olivenbaum, Hortensien, Lavendel, Kletterrosen, Sonnenblumen und Tomaten. Jule springt mit einem großen Satz neben mich, gerät ins Wanken, krallt sich an mir fest und wir stürzen beinahe die Treppe hinunter. Sie ruft: „Geil, da sind Zitronen, Orangen, Tomaten und Oliven, die müssen wir ernten!“ Schon rennt sie die Treppe hinunter. Ihr Vater ruft: „Jule, das sind nicht unsere, wir müssen erst fragen!“ Ich gehe hinter Jule her. Wir betreten die Terrasse über die Küche. Diese bildet witziger Weise den größten Raum im ganzen Haus. Es gibt einen riesigen Herd, die Wände sind ringsherum mit offenen Regalen verkleidet, in denen sich getöpfertes Geschirr, neben Gläsern mit selbstgemachter Konfitüre stapelt. Es finden sich außerdem eingelegte Oliven, Kochbücher, Wein- und Wasserkaraffen, selbstgenähte bunte Tischdecken, Sets und Brotkörbe, Flaschen mit verschiedenen Essigsorten und kleine Gläser mit Korken verschlossen, auf denen die verschiedensten Gewürznamen stehen. Ich staune. Jule ruft schmatzend von draußen: „Annie du wirst irre! Hier gibt es tausend verschiedene Gewürztöpfe.“ Ich trete auf die Terrasse. Ein warmer Wind streichelt meine nackten Schultern. Ich rieche ein Gemisch aus Minze, Thymian und Lavendel. Der Innenhof ist so zugewachsen und vollgerankt, dass er wie ein verwunschener Garten aussieht. Eiserne Tische und Stühle stehen in seiner Mitte. Vögel zwitschern. Jule sagt: „Augen zu, du musst raten!“ Schon stopft sie mir etwas in den Mund. Das ist einfach für mich: „Basilikum!“ Ich öffne die Augen und lache über ihr verdutztes Gesicht. Aus dem Fenster über uns beugt sich meine Tante und sagt: „Mädchen, macht euch bitte frisch, wir gehen gleich zum Abendessen.“ Sie hat den Töpferkurs mit Halbpension gebucht. Eine deutsche Auswanderin töpfert, ihr französischer Mann kocht abends für alle. Wir laufen ein kurzes Stück durch das Dorf. Es scheint ausgestorben und wie aus einer anderen Zeit. Wir begegnen keiner Menschenseele. Die Straßenlaternen leuchten gelb und scheinen milchig in die Abenddämmerung. Grillen zirpen. Die Fensterläden der Häuser sind verschlossenen. Ob noch wegen der Mittagshitze oder weil dort niemand mehr wohnt, lässt sich nicht sagen. Der Putz blättert überall ab. Wir erreichen ein großes Gebäude, das aussieht wie ein alter Stall. Durch ein Scheunentor betreten wir es. Ah, hier wird getöpfert. Zehn Töpferscheiben stehen in einem großen Kreis. Auf einigen liegen angefangene Sachen, ich erkenne nicht, was es mal werden soll. Auf großen Tischen stehen Tassen, Becher, Teller Vasen, alle in weiß. Daneben liegen Tonklumpen in feuchtes Leinen gewickelt. An einer Wand steht ein riesiger Pizzaofen. Meine Tante lacht: „Das ist der Brennofen, wenn er voll ist, wird er angeworfen.“ An der gegenüberliegenden Wand sind Regale bis zur Decke geschraubt. Dort hängen Tassen und Becher an Haken, es stehen Schüsseln, Kannen, Vasen und Krüge auf Brettern. Sie sind in dunkelblau, türkisgrün, weiß, lavendel und hellgrün lasiert. Die meisten einfarbig aber es finden sich auch Tupfen, Streifen und Muscheln. Mein Herz macht einen Hüpfer, ich will töpfern! „Jule, du auch?“, frage ich sie. Sie ist schon durch die nächste Tür nach draußen gerannt und ruft: „Nee, was soll ich denn mit den ganzen Töppen?“ Ich folge ihr und bleibe gleich wieder stehen. Ein riesengroßer alter Olivenbaum steht in der Mitte des Hofes. Unter ihm ist eine lange Tafel gedeckt. Sie biegt sich durch die Last der Unmengen an Schalen und Töpfen mit Essen, Karaffen mit Wein und Wasser, Körben mit Baguette, Etageren mit Maccarones und Eclairs. Etwa zwanzig Erwachsene halten Gläser in den Händen, stehen um den Tisch und unterhalten sich ausgelassen. Es ist schon dunkel. Von dem Olivenbaum zu den Mauern hängen Lichterketten. Auf dem Tisch stehen Windlichter. Im Baum hängen Windspiele. Zwischen den Erwachsenen toben rund zehn Kinder und Jugendliche wild und laut lachend, Jule mittendrin. Dieser Sommer ist für mich eine Offenbarung: Es sind mes Vacances!
Nach den Ferien gehe ich in die achte Klasse. Meine langen rotblonden Locken, fallen mir über den Rücken. Mein schmales Gesicht wirkt dadurch noch länger. Von meinem Vater erbte ich die Sommersprossen.
Wenn ich lache, breitet es sich von meinen Augen, über meine Wangen und das ganze Gesicht aus und steckt jeden an. Das weiß ich von meiner Oma, sie hat dieses Lachen auch und sagte es mir. Von meiner Mutter bekam ich den großen Busen, für den ich mich schäme. Ich war das erste Mädchen in der Klasse, das Brüste bekam. Ich war zehn! Ich trug einen engen Balettanzug im Sportunterricht und saß in der Turnhalle auf der Holzbank vorm Fenster. Meine beste Freundin saß neben mir und roch nach ungewaschenem Po. Ich schämte mich für sie. Die Jungs, die ein paar Plätze weiter saßen, kicherten, standen auf, lachten, schauten zu uns rüber. Ich war immer noch mit dem Pogeruch beschäftigt. Unsere viel zu weißen Füße steckten in Ballerinaschuhen. Meine Freundin trug ebenfalls einen eng anliegenden Ballettanzug. Aber sie hatte keine Brüste. Ich stierte sie an, aber es war wirklich nicht mal in Erbsengröße etwas zu sehen. Ich seufzte. Meine Brüste waren kirschgroß und -rund, sie zeichneten sich deutlich unter dem straff gespannten Stoff ab. Eine Horde wild gewordener Jungs stürmte auf uns zu, machte Halt, begaffte uns, rannte wieder zurück und brüllte dabei: „Igitt, die hat schon Titten!“ Dann brachen sie in Lachen aus. Meine Freundin senkte verlegen den Kopf. Unsere Lehrerin kam aus dem Geräteraum zu uns herüber, wusste nicht was los war und begann mit dem Unterricht: Bockspringen. Darin bin ich eine Granate. Es lenkte mich ab. Erst in der Umkleidekabine dachte ich wieder an die Scham. Ich nähte mir aus Dauerelastischenbinden einen Brustwickel, so straff, wie ich es ertrug, damit man meine Brust nicht mehr sah. Darüber trug ich fortan weite T-Shirts. Eine Weile ging das gut. Irgendwann war mein Busen jedoch so groß, dass er keinen Halt hatte und mich am Hüpfen, Springen und Rennen hinderte. Bisher war ich das schnellste Mädchen der Klasse. Nun war ich nur noch unglücklich. In den ersten Ferien mit meiner Cousine fahren wir auch einmal an einen Nacktbadestrand am Mittelmeer. Ich schäme mich so sehr, dass ich die ganze Zeit auf dem Bauch liege und nicht einmal schwimmen mag. Ich sterbe fast vor Hitze. Wozu bekam ich diesen bescheuerten Frauenkörper? Ich bin ein Kind! Ich will nackt Ball spielen und mich frei fühlen… Mit zwölf Jahren bekomme ich als erste meine Regel. Ich denke mein Körper spinnt total. Ich traue mich nicht, mit jemandem darüber zu sprechen und bastelte mir Binden aus Klopapier. Doch das hält natürlich nicht, Schlüpfer und Jeans sind voller Blut. Als meine Tante und mein Onkel in jenem Sommer Ausflüge machen wollen, gebe ich vor krank zu sein und lege mich eine Woche ins Bett. Es gibt keine Waschmaschine in unserer Unterkunft und ich habe nur noch eine lange Hose. An Röcke und Kleider ist in meinem Zustand gar nicht zu denken. Außerdem habe ich so starke Unterleibskrämpfe, dass Liegen das einzig erträgliche ist. Und Selbstbefriedigung. Das löst die Krämpfe. Ich hasse meinen Körper. Ich will kein Baby. Die Blutung ist klumpig. Etwa aprikosengroße Blutbälle arbeiten sich durch meinen Unterleib. Ob so ein Baby bei der Abtreibung aussieht? Aber ich hatte noch nie Sex, es kann also kein Baby sein. Ich bin gefangen in einem Frauenkörper… Ich schaue durch einen Spalt der geschlossenen Fensterläden. Noch ist es herrlich kühl draußen. Heute Nachmittag wird es wieder 40 Grad heiß sein. Ich gehe duschen und will mich rasieren. Meine Körperbehaarung, die seit diesem Sommer dazu kommt, scheint das einzige zu sein, bei der ich es besser traf, als die anderen Mädchen in meinem Umfeld. Jule hat schwarzes dichtes Haar unter den Achseln, auf ihrer Vulva und an den Beinen. Und zwar nicht nur an den Schienbeinen wie ich, sondern selbst auf auf der Rückseite ihrer Oberschenkel kräuseln sie sich. Das ist echt gemein! Sie muss täglich rasieren, sonst kann sie keine kurzen Hosen tragen. Beim Abendessen fragte sie gestern ein Mädchen, das etwas jünger ist als wir, laut und so, dass es alle hören konnten: „Jule, du hast ganz viele Hundehaare an den Beinen! Soll ich die abklopfen?“ Jule lief Tomatenrot an und schrie: „Nein du blöde Kuh, das sind keine Hundehaare, sondern meine eigenen und die gehören da hin!“ Dann spielte sie weiter. Ich war beeindruckt. In der Dusche stehend sehe ich jetzt allerdings, dass es sie doch nicht kalt gelassen hat. Mein Rasierer ist mit kurzen, schwarzgelockten Haaren verstopft. Ich stöhne. Jule, das ist echt eklig, das sauber zu machen! Ich schaue an mir herab. Meine Haare sind dünn, blond und glatt, Jule findet sie unsichtbar. Ich sehe natürlich trotzdem jedes noch so kleines Härchen ganz genau. […]
Der vollständige Text erscheint mit weiteren meiner Kurzgeschichten.
Maja, die verlorene Löwin sucht ihre Stimme – Die Löwin
„Akwaaba!“ „Wose? Ka yo bio?“ „ƐnyƐ hwee!“ Große, fast schwarze Augen schauen mich an. Freundlich, beinahe sanft ruhen sie auf mir. Der Mund formt ein geduldiges Lächeln. Die Haare sind eng am Kopf geflochten. Die Frau ist groß, genauso groß wie ich. Sie trägt ein farbenfrohes Kleid, das hinunter bis zu ihren Füßen reicht, die in Flipflops stecken. Auf dem Kopf balanciert sie einen Topf mit Wasser. Um die Brust hat sie ein Tuch gewickelt. Daraus schauen an ihrer Taille winzige rosafarbene Füßchen hervor. Mein Herz kribbelt vor Glück. Sie bemerkt es vor mir. Ihre Hände greifen hinter ihren Rücken nach dem Baby. Seine Augen schauen ebenso so sanft, wie die seiner Mutter. Sie fragt, ob sie mich berühren dürfe, sie habe noch nie weiße Haut angefasst. Ich nicke. Sie streichelt mich. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass die Berührung einer fremden Frau so angenehm sein kann. Sie fragt mich, ob ihr Baby mich anfassen dürfe. Ich nicke wieder. Sie nimmt die winzige Hand in ihre, spricht leise ein paar Worte, singt sie eigentlich eher und führt die Fingerchen auf meinem Arm auf und ab. Das Baby quietscht vergnügt. Ein warmes Lachen fließt aus mir. Bin das wirklich ich? Immer mehr Mütter umringen uns, auf dem Rücken ihre Babys tragend, auf dem Kopf Körbe mit Brot oder Wannen mit Wäsche oder Töpfe mit Fufu. Die fremde Frau hält mir ihr Baby hin, damit ich es auf den Arm nehmen kann. Ich erwarte, dass es anfängt zu weinen, sobald es von seiner Mutter getrennt ist. So kenne ich es aus Deutschland. Aber das Baby schaut mich nur neugierig an. Ein Gefühl tiefer Liebe durchströmt mich. Die Mutter lacht mir zu und fragt, ob sie meine Haare anfassen könne. Natürlich! So weich, findet sie die. Sie nimmt die Hand ihres Babys, ich senke den Kopf. Das Baby zieht an meinen Haaren und gluckst vergnügt. Akwaaba, fühle ich auf meiner Haut. Akwaaba, höre ich im Lachen. Akwaaba, rieche ich im Duft der orangefarbenen Erde. Akwaaba, schmecke ich im Fufu. Akwaaba, sehe ich in den Gesichtern.
Als wir uns das erste Mal begegnen, ist sie mir unsympathisch. Sie ist übergewichtig, schmatzt lustlos auf einem Kaugummi, schaut gelangweilt weg, wenn ich ihr etwas erkläre. Antwortet: „Ye, ye“, wenn ich sie etwas frage. Von sich aus sagt sie nichts. Ich bin völlig verunsichert. Ich brauche dringend Hilfe. Anfangs kommt sie vier Stunden. Küche und Bäder putzen, saugen, wischen. Die Zeit reicht nicht. Ich denke, sie ist langsam. Ich einige mich mit ihr darauf, dass sie wöchentlich im Wechsel Erdgeschoss und den ersten Stock reinigt. Das kommt mir zu pass, da ich nicht alles auf einmal aufräumen muss. Ich arbeite selbständig, meist von Zuhause. So habe ich meine Ruhe, dort, wo sie gerade nicht werkelt. Wir sprechen nicht miteinander. Es ist mir unangenehm, dass sie mein Bett nach einer Liebesnacht neu bezieht, den Eimer mit Damenbinden leert, mein „Gebiss“, wie ich meine Plastikschiene zum nächtlichen Verhindern des Zähneknirschens spöttisch nenne, aus dem Zahnputzbecher nimmt, um diesen zu reinigen. Sie trägt Handschuhe. Sie bürstet die Bremspuren in der Kloschüssel. Sie stopft blutverkrustete Unterhosen in die Waschmaschine. Die Geräusche, die sie dabei macht, stören mich. Ich kann mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Ich höre Klodeckel klappen, Staub saugen, Schritte die Treppe knarzend hoch und runter laufen, den Wischmopp im Eimer stampfend auswringen, die Haustür öffnen und schließen, Geschirr klappern. Wenn sie fertig ist, kommt sie Kaugummi schmatzend an meinen Schreibtisch, knallt mir einen Zettel auf meinen Laptop und sagt: „I’m finish“. Ich zeichne ihre Stunden für die Agentur ab. Sie geht grußlos. Wenn sie weg ist, finde ich meine Sachen nicht an ihrem Platz. Ich ärgere mich. Kompost füllt die Papiermülltonne. Die Abfallwerker werden sie wieder nicht mitnehmen. Ich hänge kopfüber darin, um matschige Bananenschalen, verschimmelte Essensreste und Kaffeekrümel heraus zu fischen. Ich erklärte es ihr gefühlte hundert Male, dass es wirklich nervig sei, vergeblich. Wolle schrumpft im 60 Gradwaschgang, Teflonpfannen werden blitzsauber im Geschirrspüler und verlieren jegliche Beschichtung. In den Zimmern hängt der Geruch von Schweiß.
Wenn wir Urlaub haben, kommt sie trotzdem um sechs Uhr. Sie klingelt, fängt im Schlafzimmer an und macht die Betten. Anfangs kommt sie ohne Klingeln ins Haus. Ich erleide fast einen Herzinfarkt, als sie vor mir steht. Es dauert Monate, bis sie sich ans Klingeln gewöhnt. Ich werde Mutter.
Es gibt den siebten Tag in Folge Reis ohne Beilagen und Soße. „Eure Mami ist ein zähes Luder. Das sagte schon meine Austauschülerin als ich von morgens bis abends ohne Pause, Essen oder Trinken durch Paris lief“, sagt sie belustigt und stolz. Wir drei Kinder essen schweigend. Wir stellen das nicht in Frage. Wir stellen sie nicht in Frage. Als mich mein Freund im Studentenwohnheim besucht und fragt: „Wieso hast du nichts zu Essen im Kühlschrank?“ Lautet meine Antwort: „Wieso, ich habe doch Reis und Nudeln.“ Er zieht eine Augenbraue hoch und fragt: „Und das isst du trocken? Gehst du wenigstens in die Mensa?“. Ich zucke mit den Achseln und antworte: „Ich gehe nicht mit den anderen in die Mensa. Es ist mir zu teuer. Pommes sind mir zu ungesund, außerdem bin ich Vegetarierin.“ Er geht einkaufen und kommt mit Obst und Gemüse, Joghurt und Milch, Brot und Käse, Tomatensoße und Pizzaböden, Milchreis und Apfelmus zurück. „Heute lade ich dich zum Essen ein“, sagt er lachend. „Ich habe auf dem Weg zum Supermarkt jede Menge Bars und Bistros gesehen. In denen wird ein Student nicht arm.“ Ich schäme mich, bin dankbar und beeindruckt von ihm. Mein älterer Halbbruder sieht mich bestürzt und verwundert an: „Aber unser Vater hat deiner Mutter jeden Monat Unterhalt überwiesen, bis du 18 Jahre alt warst! Wusstest du das denn nicht? Ich habe die Ordner mit den Zahlungen alle für dich aufgehoben.“ Ich will sie nicht sehen. Er kann sie behalten. Ich schäme mich und fühle mich vorgeführt. Meine Mutter mietet in einem gehobenen Hamburger Stadtteil ein Haus, mit einem riesigen Garten. Sie kauft Seide aus China, mehrere Ballen. Sie kauft einen Schredder, für den Garten. Sie mietet in den Ferien Häuser in Dänemark, mit Solarium. Sie kauft sich eine elektrische Saftpresse, für ihre Diät. Sie kauft eine Küchenmaschine, zum Salatraspeln. Sie kauft ein Service von Villeroy & Boch, das Auge isst schließlich mit. Sie kauft ein weißes Samtsofa, für die Abende vorm Fernseher. Sie kauft ein Tischsolarium, für die Bräune im Winter. Ich brauche neue Unterhosen, die alten haben Löcher. Wir haben kein Geld, wir können sie nicht kaufen. Ich fürchte den erneuten Hohn und Spott meiner Mitschüler. Ich schwänze den Sportunterricht. „Muschi, ich gehe heute zur Post und gucke ob in meinem Fach ein Brief angekommen ist, in dem steht, dass das Kindergeld bald überwiesen wird. Dann bestelle ich uns ein großes Paket bei Otto, mit lauter schönen Anziehsachen. Notfalls stottere ich das in Raten ab und wir essen Reis ohne Soße“, sie freut sich über ihren Witz. Wieso hat sie ein Postfach? Meine beiden jüngeren Brüder wollen bis heute nichts davon wissen.
„Gyae, gyae, gyae!“ Auf dem Markt gibt es alles zu kaufen. Ich meine nicht alles, was man braucht, sondern wirklich alles. Gemüse, Obst, Kühlschränke, Hühner, Kühe, Ziegen, Autos, Medikamente, Gewürze, Kochbananen, Holz, Wellblech, Körbe, Wannen, Töpfe, Schuhe, Kleidung, Taschen, Maniok, Yam, Fernseher, Handys, Kunsthaar, Ananas, Kokosnüsse, Werkzeug… Ich bin überwältigt. Händler preisen mir rufend ihre Ware an. Frauen singen und tanzen beim Lobpreisen. Männer stampfen mit den Füßen, legen den Kopf in den Nacken, ihren Kehlen entrinnen fremdartige Vogelrufe. Es riecht stark nach Essen, Gewürzen und Schweiß. Es ist heiß, sehr heiß. Die Sonne sticht. Ich brauche was zu trinken. Es gibt überall Kühlschränke mit Coca-Cola-Flaschen. Sie sind an laufende Pickups angeschlossen oder an kleine Generatoren. Die Cola ist teuer. Außer reichen Ausländern scheint sie sich keiner leisten zu können. Also wozu? Stolz, es ist stolz etwas präsentieren zu können! Stolz auf das, was zu dem Leben gehört, von dem alle träumen. „Deutschland, da wo du herkommst, das ist doch das Paradies. Ihr habt alles wovon wir träumen. Euch mangelt es an nichts. Ihr könnt euch so viel Cola leisten wie ihr wollt. Kannst du mich nicht mitnehmen nach Deutschland?“, Andrew lacht mich an. Der Schweiß perlt auf seiner Stirn. Er wischt ihn sich mit dem Ärmel seines blauen Overalls ab. Seine Hände sind ölverschmiert. Er hat versucht, den Bus, mit dem ich zum Markt fuhr zu reparieren, ohne Erfolg. Er wollte mir ein bisschen was zeigen und ein Ersatzteil auf dem Markt besorgen. Er ist nicht aufdringlich. Trotzdem bin ich unangenehm berührt. Ich sage ihm, dass die Afrikaner, die ich in Deutschland kennenlernte, häufig darunter leiden, dass die Deutschen sie nie anlachen, immer griesgrämig seien und am liebsten für sich bleiben. Außerdem sei das Wetter so unglaublich schlecht. Andrew schaut mich kopfschüttelnd an: „Es ist das Paradies, was willst du mehr?“ Ein Mann schubst mich im Vorbeirennen zur Seite. Ich lasse mir an einem Stand Rastazöpfe flechten. Es ziept entsetzlich. Und es dauert Stunden. Die beiden Frauen, die meine Haare bearbeiten, tragen im Tuch auf dem Rücken jede ein Baby. Ich höre die ganze Zeit nicht einen Mucks. Die eine kämmt das Kunsthaar im sitzen und teilt es in dünne Strähnen, die andere flicht das Kunsthaar im Stehen in meine Haare. Mücken schwirren um mich. Ich versuche sie zu verscheuchen. Ich habe mich gründlich mit Insektiziden eingesprüht und nehme Malariaprofilaxe. Dennoch reagiere ich panisch, wenn sie mich stechen. Es gibt unzählige Krankheiten, die sie übertragen können. Besonders hier, bei dem tropisch-feuchten Klima, mit unzähligen Pfützen, die sich auf den gelben Lehmpisten sammeln und im dichten Menschengedränge. Ich bereue meinen Entschluss mit den Rastazöpfen. Eine Horde Menschen rennt am Stand vorbei, laut schimpfend, die Fäuste zum Himmel gereckt. Warum sind sie so aufgebracht? Jemand hat an einem Stand Kochbananen geklaut. „Und alle rennen hinter dem Mann her?“ frage ich. „Ja! Es gibt viele hungrige Mäuler. Würde man sie alle gewähren lassen, ermuntert das immer weitere. Die Standbesitzer haben Zuhause selbst eine darbende Familie, die sie ernähren müssen“, sagt die schlanke Frau in ihrem eng ansitzenden Kleid mit ruhiger, gutmütiger Stimme und zieht dabei an meinen Haaren, um sie in den nächsten Rastazopf einzuflechten. Am nächsten Tag lese ich eine Randnotiz in einer englischsprachigen Zeitung: Lynchmord auf dem Markt nach Diebstahl von Essen. Rund hundert aufgebrachte Männer und Frauen prügelten einen Mann nach dem Diebstahl von Kochbananen zu Tode. Er hinterlässt seine Frau und sieben Kinder. Die Regierung verurteilt Selbstjustiz, die Polizei gehe dagegen vor. Unglaubliches Grauen lässt mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen.
Als ich einen dicken Babybauch zum Ende meiner Schwangerschaft vor mich herschiebe, erhöhe ich ihre Stunden auf sechs pro Woche. Es reicht immer noch nicht.
Irgendwann fragt sie mich, ob ich ein Baby erwarte. Es ist nicht nur die erste an mich gerichtete Frage, es ist die erste persönliche Ansprache überhaupt. Als ich bejahe, ändert sich ihre Körpersprache komplett.
Sie strahlt übers ganze Gesicht, als sie auf Englisch sagt: „Ah, das habe ich schon geahnt. Eine Mutter spürt so etwas mit dem Herzen.“ Sie breitet ihre Arme aus, wie zur Liebkosung. Ihre Augen funkeln. Von nun an fragt sie mich jedes Mal nach dem Baby und hält einen kleinen Plausch. Sie ist gut gelaunt. Ihre Gegenwart stört mich nicht mehr. Als ich mit einem Taxi unter Wehen ins Krankenhaus zur Entbindung fahre, wünscht sie mir viel Glück, ruft immer wieder: „God bless you“ und wirft mir Kusshändchen nach. Ich bin gerührt und in meinem Umstand ohnehin schon nahe am Wasser gebaut, so dass ich den Tränen freien Lauf lasse. Der Taxifahrer versucht mich aufzumuntern: „Kindchen, das wird schon alles gut gehen! Ich habe so viele Frauen ins Krankenhaus gefahren und wir sind nie zu spät gekommen. Ich gebe Gas“. Was folgt, bringt meine Nerven, die einem seidenen Faden gleichen, noch mehr unter Spannung. Als ich entlassen werde, schickt uns die Agentur zum ersten Mal eine Vertretung. Es ist die Nichte. Ich erfahre den Namen meiner Hilfe: Jeanny. Es ist ihr englischer Name, ihren Afrikanischen werde ich nie erfahren. Dafür aber ihre Geschichte. Jeanny bekommt zwei Kinder in Ghana, einen Jungen und ein Mädchen. Ihr Ehemann verlässt sie kurz nach der Geburt des zweiten Kindes und lässt sich nie wieder blicken. Jeanny ist alleinerziehend, arbeitet viel und hart, um ihre Familie zu ernähren. Aber es reicht nicht, um die Kinder auf‘s Collage zu schicken. Sie will, dass aus ihnen mal etwas wird, im Gegensatz zu ihrer Mutter. Jeanny nimmt von niemandem Geld oder Hilfe an. Als ihr Sohn 16 Jahre alt ist und ihre Tochter 14, geht Jeanny nach Europa. Zahlreiche ghanaische Verwandte wanderten über Acra nach Italien aus. Daher ist es Jeannys erster Anlaufpunkt. Ihre Mutter verspricht, ein Auge auf ihre Enkelkinder zu werfen. Ein paar Familienmitglieder zog es weiter von Italien nach Deutschland. Dort gibt es gerade einen richtigen run nach Haushalthilfen. Wer ein konkretes Arbeitsangebot nachweisen kann, bekommt eine Aufenthaltserlaubnis. Jeanny nimmt eine Stelle in Hamburg an und kommt bei Verwandten in Wilhelmsburg unter. Dort gibt es günstigen Wohnraum. Zu ihrer Arbeit braucht sie jeden Tag über eine Stunde hin und noch mal wieder zurück, weil die Stadtteile mit der wohlhabenden Kundschaft nicht um die Ecke liegen. Sie kommt nicht ein einziges Mal auch nur fünf Minuten zu spät. Sie ist nie krank. Sie nimmt nie Urlaub. Sie beschwert sich nie. Als ihr Sohn 18 Jahre alt ist, stirbt er an einer Überdosis. Jeanny erscheint zum ersten Mal nicht bei der Arbeit… Ich frage ihre Nichte, wann die Beerdigung sei und wie lange Jeanny in Ghana sei. Sie schüttelt stumm den Kopf. Sie erklärt mir, dass ihre Tante nicht zur Beisetzung ihres Sohnes fliegen werde, da die Flüge so kurzfristig zu teuer sind. Sie will das Geld lieber für ihre Tochter sparen. In der darauffolgenden Woche steht Jeanny wieder um sechs Uhr bei uns im Haus und macht sich an die Arbeit. Sie erwähnt den Tod ihres Sohnes mit keinem Wort. Ich weiß, dass sie es nicht tut, um mich damit nicht zu belasten. Die Demuth und Tapferkeit dieser anfangs so stummen Dienerin treiben mir Tränen in die Augen. Sie verließ ihre Kinder, damit sie ein besseres Leben haben als sie selbst. Nun scheint dieses Opfer vergebens, so sehe ich es. Aber sie kämpft weiter klaglos für ihre Tochter. Ich wende mich schnell ab, denn meine Betroffenheit würde sie bekümmern. Als wir uns das nächste Mal sehen, gebe ich ihr das Geld für den Flug. Wir schauen uns in die Augen.
Ich sehe ihren Schmerz, eine Trauer, die nur Mütter fühlen können. Sie scheint greifbar zwischen uns. Wir umarmen uns. Stumm laufen uns Tränen über die Wangen.
„Was hast du heute für Hausaufgaben auf?“, fragt sie mich, während sie in der Küche hantiert. „Deutsch, wir müssen einen Aufsatz aus der Perspektive eines Tieres schreiben“, antworte ich gequält. „Oh fein, das klingt doch super! Ich helfe Dir“, sagt sie vergnügt. Ich hole meine Schulsachen und lege sie auf den Esstisch. Ich bin eine gute Schülerin, aber entsetzlich schüchtern. Der Gedanke daran, meine Geschichte morgen vorlesen zu müssen, löst heute schon schweißnasse Hände, Kopfschmerzen und starkes Unwohlsein bei mir aus. Meine Mutter setzt sich an den Tisch und liest sich die Aufgabe durch. „Toll, ich liebe solche Aufgaben,“ sie nimmt einen Zettel aus der Schublade hinter sich und einen Stift aus einer Dose, dann macht sie sich ans Werk. Sie schreibt eine Geschichte aus der Perspektive einer Katze. Eine halbe Stunde lang spricht sie kein Wort. Dann legt sie den Stift zur Seite, reibt sich zufrieden die Hände und sagt voller Stolz zu mir: „So, jetzt brauchst du die Geschichte nur noch in dein Heft abzuschreiben.“ Ich gewinne beim Vorlesewettbewerb in meiner Klasse. Dann in meiner Stufe, zum Schluss an unserer Schule. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe. Ich kann mich an diese Momente nur vage erinnern. Zu Beginn raste jedes Mal mein Herz, kalter Schweiß brach aus, ich zitterte am ganzen Körper, ich sah alles nur noch verschwommen, Geräusche klangen dumpf, dann verließ ich meinen Körper und sah mich von oben und ganz weit weg. Was anschließend folgte, erinnere ich nicht mehr. Ich gewinne den Schulwettbewerb und soll für unsere Schule mit Schülerinnen und Schülern aller anderen Schulen Hamburgs um die Wette vorlesen. Allein beim Gedanken daran fühle ich mich krank. Ich sage zu meiner Mutter: „Ich kann das nicht. Ich fühle mich schrecklich, wenn ich nur daran denke.“ Sie breitet ihre Arme aus und zieht mich an ihren großen Busen. Da ich inzwischen größer bin als sie, muss ich mich bücken. Ich lasse mich wie in ein weiches Kissen, tief hineinfallen. „Mein armes Puschilein. Natürlich musst du da nicht hingehen. Ich rufe in der Schule an und sage du bist krank“, flötet sie mit sanfter Stimme, während sie mir über den Kopf streichelt. Als ich Anfang 19 Jahre alt bin, in meinem letzten Schuljahr vor dem Abitur, fühle ich mich viel zu alt für die Schule, für Hausaufgaben und um mir etwas von meinen Lehrern sagen zu lassen. Ich habe keine Idee, wohin mich mein künftiges Leben führen wird und will einen sozialen Dienst ableisten. Erstmal weg von Zuhause. Erstmal auf eigenen Beinen stehen. Etwas Gutes tun, die Welt retten, dann wird sich mir schon ein Weg auftun, hoffe ich und habe wahnsinnige Angst. Ich bewerbe mich schriftlich in einem Nationalpark als Rangerin. Ich werde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Ich soll beim Leiter des Nationalparks anrufen und mich zu einem Gespräch mit ihm verabreden, steht in dem amtlichen Schreiben, das ich mit der freudigen Botschaft erhalte. Sofort quäle ich mich wieder. Ich kann da nicht anrufen, ich schaffe das nicht. Ich sage es meiner Mutter. „Ist doch kein Problem“, trällert sie fröhlich. Sie geht zum Telefon und ruft beim Leiter des Nationalparks an. Sie unterhält sich 20 Minuten mit ihm über mich. Dabei wirft sie mehrfach lachend den Kopf in den Nacken. Als sie den Hörer auflegt sagt sie zu mir: „Siehst du, das war gar kein Problem. Ich habe dir für nächste Woche einen Termin gemacht.“ Ich schrei sie an: „Warum hast du das getan? Das ist total peinlich! Ich werde in ein paar Monaten 20 Jahre alt!“ Sie schüttelt den Kopf, guckt mich enttäuscht an und sagt: „Warum kannst du nicht einfach dankbar sein? Ich meine es doch immer nur gut mit dir.“
Ich fahre mit dem Bus von Acra nach Norden. Ich will mir eine Goldmine in Obuasi ansehen. Es dauert einen Tag lang von der Hauptstadt Ghanas aus, obwohl sie nicht mal 300 Kilometer entfernt liegt. Ich weiß jetzt auch warum. Der Bus schaukelt hin und her und wirbelt auf den gelben, sandigen Schotterpisten jede Menge Staub auf. Tiefe Schlaglöcher und ein nicht enden wollender Strom des Gegenverkehrs lassen den Busfahrer eine Art Schlangentanz auf der Straße vollführen. Er macht das gut, ohne Frage. Geht‘s zügig, fährt er 40 Stundenkilometer. Phasenweise kommt er aber auch einfach nur im Schritttempo vorwärts. Ich wundere mich, dass es selbst im Großraum der Hauptstadt keine besseren Straßen gibt. Wie wollen die Menschen ihr Land an der Grenze im Norden erreichen, rund 1000 Kilometer von Acra entfernt? Müll säumt die Piste, alte Blechwannen, Autos, Kühlschränke. Dazwischen Hunde, Welchblechhütten und spielende Kinder. Im Hintergrund Regenwald. Als ich an der Goldmine ankomme, tut sich vor mir ein riesiger orange-gelber Krater auf. Der Tageabbau ist günstiger, aber er reißt schwere Wunden ins Land. Er zerstört den Wald, verschmutzt das Wasser, zerschlägt Steine bei Sprengungen, lärmt Tag und Nacht, vergiftet mit Chemikalien, lässt Fische sterben. Der Bergbau verbietet ehemalige Wege zu betreten, Grundstücke zu bebauen und vormalige Felder zu bestellen. Bauern werden enteignet und verlieren ihre Lebensgrundlage. Sie haben keine Ausbildung und bekommen keinen Job in den Goldminen.
Dort arbeiten unzählige barfuß und ohne Schutzkleidung.
Der Bergbau ist Ghanas größter Arbeitgeber, mit etwa hundertfünfzigtausend Familienunternehmen. Gold ist Ghanas wichtigstes Exportgut. Das Goldfeld von Obuasi ist das neuntgrößte der Welt. Ghana gilt als politisch stabiles, wirtschaftlich starkes und in den sozialen Bereichen fortschrittliches Land im Vergleich zu anderen afrikanischen Staaten. […]
Auszug aus meiner Kurzgeschichte Mutter. Sie erscheint mit weiteren voraussichtlich 2023 in einem Buch.
Es ist so weit: Meine Tochter bekommt den ersten Füller ihres Lebens. Niemand weiß, warum Kinder heutzutage noch mit dem Füller schreiben müssen, aber alle sind sich einig, dass es ein wichtiger Abschnitt im Leben eines Kindes ist. Ich schlage ihrer Lehrerin ein kreatives Schreibprojekt vor. Als ich meiner Freundin davon erzähle, die ebenfalls Lehrerin ist, lautet ihre Antwort: „Das finde ich mutig von dir!“ Mutig? Also eigentlich wollte ich nicht etwas mit Jugendlichen in der Bronx diskutieren! Sondern an einer Grundschule in Hamburg kreatives Schreiben üben und entweder es gefällt den Kindern oder nicht. Ich frage besser nicht nach, wer weiß, was heutzutage so los ist an den Grundschulen…
Die Schüler stellen sich vor, sie seien der Weihnachtsmann. Sie riechen verbrannte Plätzchen. Sie hören, dass jemand schrecklich schief singt. Sie schmecken den Ruß des Schornsteins. Sie fühlen, dass sie zu dick geworden sind und nicht mehr durch den Schlot passen. Sie sehen, dass es mal wieder grau und verregnet ist, anstatt dass es an Weihnachten schneit. Sie malen mit Worten
Nach Zustimmung des Schulleiters, entscheide ich gemeinsam mit der Klassenlehrerin noch vor Weihnachten zu beginnen. Ich hoffe, es macht den Kindern Freude in einer Zeit, in der wegen Corona jedes Weihnachtstheater, Schulbacken und Krippenspiel entfällt. Vor meinem inneren Auge läuft ein Film meiner eigenen vorweihnachtlichen Zeit in der Schule ab. Die Tische stehen in Sechser-Gruppen zusammen. Jedes Kind hat vor sich auf seinem Tisch ein paar geschmückte Tannenzweige, eine brennende Kerze und Orangen, die mit Nelken gespickt sind. Unsere Lehrerin spielt Weihnachtslieder auf der Gitarre und liest Weihnachtsgeschichtenvor. Wir essen dabei selbstgebackene Kekse, knacken Nüsse und pellen Mandarinen. Schööööön! Voller Erwartung dessen trete ich die erste Stunde an. Und schlage ernüchtert auf dem Boden eines Klassenzimmers auf, das nur durch Neonlampen erhellt wird.
Dafür machen die Kinder begeistert mit! Brav melden sie sich und sagen: „Frau Kühne“, obwohl etliche von ihnen mich vorher beim Vornamen nannten. Sie haben kreative Einfälle und bringen diese anschließend zu Papier, wunderbar! Die Schüler stellen sich vor, sie seien der Weihnachtsmann. Sie riechen verbrannte Plätzchen. Sie hören, dass jemand schrecklich schief singt. Sie schmecken den Ruß des Schornsteins. Sie fühlen, dass sie zu dick geworden sind und nicht mehr durch den Schlot passen. Sie sehen, dass es mal wieder grau und verregnet ist, anstatt dass es an Weihnachten schneit. Sie malen mit Worten, das machen sie sehr schön. Etliche malen auch tatsächlich in ihre „Gedankenblasen“, die Kreise auf ihrem Übungsblatt. Da es ein kreatives Schreibprojekt ist, können sich die Kinder die Form aussuchen: Möglich sind neben der klassischen Geschichte, auch ein Gedicht oder Comic. Rund ein Drittel entscheidet sich für einen Comic. Davon deutlich mehr Jungs als Mädchen. Hausaufgabe, ist es, zu malen, zu reimen und zu schreiben. Jetzt maulen und jammern die Schüler erstmals und ich bin beruhigt, denn das hatte ich auch erwartet.
Die Stunde ist vorbei, als eine Diskussion entflammt, ob es den Weihnachtsmann gibt. „Nee“, sind die Kinder mehrheitlich sicher. „Meine Mama sagt immer, dass sie sich noch schminken muss und wir schon mal vorgehen sollen in die Kirche. Das sagt sie nur, damit sie ungestört die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen kann“, berichtet ein kleiner Naseweis. Ich versuche zu erklären, dass es für die Geschichte unerheblich sei, ob es ihn gibt oder nicht, schließlich ginge es beim kreativen Schreiben um Fantasie. Ein Kind platzt heraus: „Ich glaube nicht an den Weihnachtsmann. Ich habe mal einen Wunsch auf einen Zettel geschrieben und nichts bekommen.“ Oh je, ich sehe meine Tochter in der ersten Reihe immer unglücklicher aussehen und will jeden weiteren Versuch, den Weihnachtsmann zu entzaubern, unterbinden. Aber die Lehrerin sagt entschuldigend und mit einer Engelsgeduld zu mir: „Das ist gerade ein riesiges Thema.“
In der zweiten und dritten Stunde überlegen sich die Kids, welche Geschenke sie als Weihnachtsmann erfüllen würden: einen Maserati, eine PS5, eine Villa, eine Smartwatch und Playmobil. Aber auch eine Katze, ein Pferd, Glück, Rudolph das Rentier sowie dass das Corona-Virus weggeht und alle gesund sind. Im zweiten Schritt sollen die Schüler die Geschenke mit Adjektiven charakterisieren. Heraus kommt: Ich schenke dir ein grau-weißes, leichtes, kleines Schleich-Pferd. Ich schenke dir einen Pool, der 20 Meter lang ist, 100 Kilogramm wiegt, durchsichtig und quadratisch ist. Ich schenke dir einen schwarzen, 420 Stundenkilometer schnellen, coolen Bugatti Chiron. Ich schenke Dir ein schwarzes Hündchen mit einem weißen Bauch. Ich schenke dir viel fröhliches, großes, starkes Glück. Ich schenke dir fluffigen, weißen, weichen, meterhohen, glitzernden, niemals schmelzenden, perfekt zum Schneemann bauen geeigneten, nicht kalten, in dicken Flocken fallenden Schnee.
In der nächsten Doppelstunde machen die Kinder eine Übung, in der sie sich gegenseitig interviewen. Ein Schüler spielt einen Reporter, ein anderer den Weihnachtsmann. Ein Kind muslimischen Glaubens sagt, es dürfe keine Weihnachtsdekorationen haben und auch nicht an den Weihnachtsmann glauben. Es spielt einen Reporter. Seine kritische Frage lautet: „Wie viele Rentiere ziehen den Schlitten des Weihnachtsmannes?“ „Acht…?“, lautet die zaghafte Antwort des Schülers, der den Weihnachtsmann spielt. „Kann nicht sein, Rudolph läuft vorne weg und ist immer allein! Also muss es eine ungrade Zahl an Rentieren sein!“, argumentiert der kleine Reporter.
Ein anderes Kind fragt: „Weihnachtsmann, was machst du im Sommer? Der kleine Santa Claus antwortet: „Ich bade.“ „Und wer ist dein bester Freund?“ Der gespielte Weihnachtsmann: „Der Nikolaus“. „Und wo wohnst du?“ „Am Nordpol“; „In Spanien“; „Im Himmel“; „In Griechenland“; „Im Lentersweg 1“.
Die Antworten sind so unterschiedlich, wie die gespielten kleinen Weihnachtsmänner in der Schulklasse.
In diesem Sinne Schalom, Salam Aleikum, Om mani padme hum und phantastische Weihnachten! Mit Weihnachtsmännern und -frauen, Christkindern, Engeln, Tomtes, Trollen, Wichteln, Nikoläusen, Göttern und Göttinnen sowie natürlich dem wichtigsten: der Liebe! Oder war das jetzt bloß ein biochemischer Prozess? Ach nee, das lernen unsere Kids ja zum Glück erst in der weiterführenden Schule… Also einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Die Geschichten erscheinen mit weiteren Kindergeschichten in einem Buch.
„Ich will auch im Schulchor singen!“, verkündet meine Tochter. Und zwar auf die energische Art. Ich fühle mich nicht gut dabei, denn sie ist zu dem Zeitpunkt erst drei Jahre alt. Wir sahen ein Krippenspiel und die Kleinen haben wirklich toll gesungen! Ich erkläre ihr, dass alle Kinder mindestens sechs Jahre alt sind. Meine Lütte muss sich also noch ein paar Jahre gedulden. Davon will mein Dickkopf aber nichts wissen und quengelt fortan: „Mama, bitte, bitte, bitte, frag doch mal!“ Ich spreche mit der Chorleiterin und: Überraschung, mit vier Jahren kann sie mitsingen! Sie spielt einen kleinen Engel, ohne Text-Rolle. Nach der Aufführung verkündet sie: „Mama, ich will Klavier spielen!“ Oh nein, denke ich, nicht schon wieder! Zum guten Ton der Bildungsbürger gehört eine musikalische Ausbildung. Das beginnt mit drei Monaten, indem Klangschalen den Kurs zur Babymassage begleiten. Meiner Tochter war das alles zu viel. Sie äußerte es mit lautem Protestgeschrei. Weiter geht’s mit dem Musikgarten im Kleinkindalter. Parallel zur Vorschulzeit kommt dann endlich das ersehnte erste Instrument: Flöte oder Klavier, seltener auch Geige! Zu diesem Zeitpunkt haben es die fleißigen Eltern geschafft. Da die Hände meiner Tochter zum Klavier spielen zu klein sind, startet sie mit der Flöte. Wir machen eine Mama-Tochter-Stunde daraus. Und obwohl ich seit der ersten Klasse keine Flöte mehr in der Hand hielt und sie absolut nicht zu den Instrumenten meiner Wahl zählt, macht es richtig Spaß! Meine Kleine versucht ihren Vater ebenfalls zum Musizieren zu bewegen. Als er wegen einer Verletzung eine verbundene Hand hat, sagt sie: „Ich glaube Papa, sie haben dir nur den einen Finger verbunden, damit du flöten kannst!“ Meine Jungs sind noch zu klein um wie ihre große Schwester zu musizieren. Aber sie lieben es, wenn sie singt und klopfen dazu im Takt mit der Gabel auf Tisch und Töpfe.
Ich besuche mit meiner Kleinen auch Kinderkonzerte. Bislang bestreikte ich die völlig überteuerte und fehl geplante Elbphilharmonie. Dessen Finanzierung hatte das Einstampfen zahlloser sozialer Projekte in Hamburg zur Folge.
Ich höre mir nun zusammen mit meiner Tochter zum ersten Mal ein Konzert dort an. Wow, ich bin beeindruckt! Von Architektur, Darstellern, Musik und dem künstlerischen Gefühl, das sie mit allem verströmt! Ich wusste schon, warum ich aus Protest nach der Eröffnung nicht hin ging! Meine Kleine sagt: „Mama, es ist sooooo schön! Wann gehen wir wieder in die Elphi?“
Einmal dort gewesen, kannst du dich dem Charme der Elphi einfach nicht entziehen!
Die Reise beginnt in der quirligen, drei Millionen Einwohner zählenden Metropole TORONTO, am Lake Ontario. Halbwegs zentral gelegen, für fünf Personen und gerne mit Frühstück, kosten rund 250 Euro die Nacht. Wow, in diesem Punkt ähnelt die Stadt tatsächlich New York, mit der sie sich selbst so gern vergleicht. Filme, die in New York spielen, werden hier gedreht, weil es günstiger ist und die Skylines verwechselbar sind.
Unser Zimmer ist so winzig, dass das Gepäck nicht hinein passt.
Am nächsten Morgen fahren wir zu den „donnernden Wassern“, so nannten die Irokesen die Niagara Fälle. Wir fahren, für mich überraschend, nur anderthalb Stunden von Toronto. Ich hatte die Fälle entlegener erwartet. Gischt erfüllt die Luft und hüllt alles in einen leichten Nebel, es riecht würzig wie am Atlantik, das Wasser schimmert türkis-grün. Die kanadischen Horseshoe Falls sind rund 60 Meter hoch und fast 700 Meter breit. Es wäre wunderschön, doch der Rummel darum herum erstickt die Anmut des Naturschauspiels. Doch ich täusche mich, denn es handelt sich gar nicht um Natur, sondern um ein kleines Las Vegas.
Über den „donnernden Wassern“, fliegen heute donnernde Helikopter für zehnminütige Rundflüge.
Wir folgen demLorenz-Strom durch altes Kulturland, Wälder und Seen, im Herzen Kanadas. Grüne Birken-, Espen- und Kiefernwälder. Dazu zahllose dunkelblaue Seen, ab und an schroffe Felsen oder Klippen an ihren Ufern. Leise plätschernde, kristallklare Bäche mit einfachen Brettern überspannt zur Brücke und über allem ein knallblauer Himmel. Das erwartet uns nur drei Stunden Fahrt von Toronto entfernt.
Die Algonquin-Indianer waren vor rund 125 Jahren Namensgeber des riesigen Nationalparks. Sie durchstreiften das Land beim Jagen, Fischen und Beerensammeln.
Weiter geht’s bis Tadoussac, der Wiege der Wale. Jetzt haben wir etwas wirklich Großes vor: Wir pilgern zu den gigantischen Meeressäugern, die im warmen Lorenzstrom vor der Küste dümpeln. Die Wale bringen ihre Jungen bei Tadoussac zur Welt. Die ganze Stadt gründet sich nur auf dem Wal-Fieber.
Etwas zieht in meiner Brust, wie wenn ein Vogel, in einem Käfig eingesperrt ist. Wir lassen unsere Kinder in Deutschland nicht frei sein, weil wir ausschließen wollen, dass ihnen Unfälle passieren… Aber sie zahlen einen hohen Preis dafür!
Auf der Gaspé-Halbinsel im französisch geprägten Kanada entdecken wir schneebedeckte Berge, Fjorde und Schwarzbären. Die Kinder Kanadas genießen große Freiheiten. Bereits Kleinkinder fahren mit Stütz-Rädern allein über den Campingplatz. Kindergartenkinder gehen unbegleitet auf Spielplätze oder größere Entfernungen zu Toiletten. Grundschüler schwimmen ohne Aufsicht in Seen oder im Meer. Sie bitten fremde Erwachsene um Hilfe, so wie mich. Sie wirken glücklich und unbeschwert. Es ist schön, sie so zu sehen. Mir ginge das zu weit für unsere eigenen Kinder…
Wir üben uns auch im Waldbaden, japanisch Shinrin Yoku. Seit den 1980er Jahren empfiehlt die japanische Regierung das Waldbaden. Ärzte verschreiben es auf Rezept. Es ist wissenschaftlich belegt, dass dreimaliges Waldbaden im Monat, für etwa zwei Stunden, zur Stärkung des Immunsystems führt und der Krebsprophylaxe dient. Wir reisen nach New Brunswick, in der Bay of Fundy. Dort staunen wir über den größten Tidenhub Kanadas. Nova Scotia beeindruckt mit seiner Schärenlandschaft.
Auf der Insel Prince Edward stehen unzählige Leuchttürme.
Der Kouchibouguac-Nationalpark feiert mit Erklärungen zu den Lebensweisen der Mi’kmaq. Es sind die ersten Informationen über Indianer, die sich uns anbieten, sonst finden wir kaum Spuren. Die Bevölkerung ist so „weiß“, dass es fast unheimlich anmutet. Uns ist fast nicht erkenntlich, dass es überhaupt einmal Indianer gab. Dabei lebten in Nordamerika mehrere hundert Stämme. Allein die Mi’kmaq hatten mehr als hunderttausend Stammesmitglieder. Im Osten Kanadas wurden die First Nations schon mit den ersten Siedlern nahezu vollständig ihrer Lebensgrundlage beraubt. Dabei war ihr Daseinperfekt auf die Natur Nordamerikas eingestellt. Der Wald und das Meer haben ihnen alles geboten, was sie brauchten.
Die Mi’kmaq bauten Kanus und Wigwams. Sie harpunierten von Land aus Wale und waren umsichtig genug, dass diese wieder in die Nähe des Strandes kamen. Die ersten Europäer fingen die Wale so, dass sie nicht mehr in die Nähe des Landes kamen…
Die First Nations kannten gegen jede Krankheit ein Heilkraut, befragten ihre Ältesten und lebten im Einklang mit der Wildnis. Das änderte sich radikal mit der Ankunft des „weißes Mannes“. Die Siedler der englischen Kolonien bekämpften die Wildnis einfach nur und waren von dem Gedanken, das Land urbar zu machen, getrieben. Die schönsten und artenreichsten Urwälder der Erde standen in der „neuen Welt“ in Maine. Die Auswanderer hatten meist keine Ahnung von Agrarwirtschaft oder Ackerbau. Sie holzten und brannten einfach alles ab und laugten die Böden binnen drei Jahren so vollständig aus, dass sie zur Landwirtschaft unbrauchbar waren. Dann siedelten sie weiter nach Westen. In Maine scheinen die Amerikaner verstanden zu haben, dass ein Zusammenleben mit den Native Americans die bessere Wahl gewesen wäre – für beide Seiten.
Wir überqueren die Grenze zur USA und fahren in das Wanderparadis im Acadia National Park.
Die Sylt ähnelnde Insel Cape Codverfügt über endlose Sandstrände am Atlantik. Im Robert Treman Park im Bundestaat NEW YORK geht’s gechilt und multikulti beim Baden zu. Unsere Runde endete nach gut 8000 KILOMETERN!!!!! Wir sind back in Toronto…
Der Buchkalender verfügt über eine Spiralbindung mit Aufhängung, ein Deckblatt mit Klarsichtfolie sowie eine Rückwand aus Pappe. Er ist über Amazon für 12,90 Euro, zuzüglich drei Euro Versandkosten zu bestellen: https://amzn.eu/d/fwVqfg8 Oder direkt über mich unter Angabe der Adresse: https://www.paypal.com/paypalme/BookFaithLoveHope. ISBN 978-3-00-061606-8