Flashback

Mongolei

Fotos: Kristoff Kühne

Mit beiden Händen greife ich in die dicke Wolle. Ich packe das Schaf hinter den Ohren am Nacken. Blitzschnell drehe ich das Tier und werfe es auf den Rücken. Der Schweiß rinnt mir über die Stirn. Mein Atem fließt ruhig. Geschickt ziehe ich das Messer aus dem Schaft, der an meinem Hosenbund befestigt ist. Ich führe die Klinge von einem Ohr des Schafes zum anderen. Unterhalb seines Kiefers. Blut tropft pulsierend in eine Schale, die ich zwischen Boden und Kopf des Tieres schiebe. Ich halte das Schaf auf meinem Schoss und blicke ihm in seine gelben Augen. Dann schaue ich auf und sehe in die braunen Augen meines Sohnes.

Ich habe das hundert Mal gemacht. Und immer gab es mir ein Gefühl der Ruhe, des Friedens, des Eins-Seins mit mir selbst, der Natur und Allah. Meine Familie lebte seit Generationen als Nomaden im Altai-Gebirge.

Die Sommer verbrachten wir in Jurten und zogen mit unseren Herden auf dem Hochplateau von Bergsteppe zu Bergsteppe. Die Planen für die Jurte, spannten wir auf einem Holzgerüst zu einer Art Zelt. Wir entschieden morgens, ob wir weiterziehen. Der Auf- und Abbau war schnell gemacht. In der Jurte lebte unsere ganze Familie mit mehreren Generationen. In der Mitte befand sich eine Feuerstelle zum Heizen und Kochen. An den Außenwänden standen geräumige Holzbetten, in denen mehrere Personen schliefen. Wir wärmten uns gegenseitig. Bevor ich laufen lernte, setzten mich meine Brüder vor sich, in den Sattel. Sie preschten stehend und im wilden Galopp durch das Altai-Gebirge. Im Alter von fünf Jahren stieß ich gellende Schreie aus, bevor ich selbst im Galopp davon ritt. Ich fing die Ziegen ein, die meine älteren Geschwister die Berge hinunter trieben, ins Tal, zu den Jurten. Sie riefen mir schon von weitem ihr fröhliches „Salam aleikum“ entgegen. Dann band ich die Ziegen zum Melken zusammen. Einen Kopf in Richtung der Jurte blickend, den nächsten in Richtung der Berge. Wenn die Tiere wegzurennen versuchten, blockierten sie sich gegenseitig. Das Melken war Frauensache. Ebenso das Aufziehen der verstoßen Jungtiere, mit der Flasche. Als ich acht Jahre alt wurde, bekam ich meine eigene Herde. Ich trieb sie in die Berge und abends zurück ins Tal. Ein paar Jahre später half ich meinen Brüdern beim Treiben der großen Schafsherden. Ich liebte das. Diese Freiheit. Den Kitzel der plötzlichen Gefahr. Wenn ohne Vorwarnung das Wetter umschlug und wir uns am Felsgrat eines 4000ers befanden. Im Sommer konnten wir über 40 Grad Celsius bekommen. In harten Wintern hatten wir den Dsud. Etwa alle zehn Jahre. Besonders viel Schnee fiel in solchen Wintern. Die Temperaturen lagen anschließend unter 40 Grad Minus. Die Herden fanden nicht genug Futter. Es kam zum Massensterben. Schneestürme ließen die Tiere den Halt verlieren und wegrutschen. Etliche stürzten die steilen Hänge in die Tiefe. Meine Hände wurden taub und konnten die Zügel kaum halten. Nur die besten Reiter und Pferde behaupteten sich hier. Meine Lungen krampften. Als ob sie sich weigern wollten, die brennend, kalte Luft einzuatmen. Meine Augen tränten und verengten sich ungewollt zu Schlitzen. Manches Mal mussten wir eine Notunterkunft aufschlagen. Wir bauten uns aus unseren bodenlangen Mänteln Zelte. Wir kauerten uns darunter aneinander, bis der Sturm vorüberzog. Anschließend zählten wir die Tiere. Wir aßen sie, fertigten Kleidung und Möbel aus ihnen. Die Abstände der Dsuds verkürzten sich. Viele Nomaden verbrachten die Winter in Verschlägen am Rande der Stadt.

Mein Sohn sieht mich mit einem seltsamen Ausdruck an. Da ist etwas in seinem Blick, das ich nicht erwartete. Eine Träne hängt, an seinen langen, dunklen Wimpern. Klar, das war absehbar. Aber da ist noch etwas. Ablehnend und sogar angewidert sieht mir mein Sohn entgegen. Ich stocke. Eine Sekunde zu lange, das Schaf zappelt und entzieht sich meinem Griff.

Zum Schlachten trieben wir die ganze Herde von den Bergen, im Galopp ins Tal. Das puschte die Tiere auf und ermüdete sie zugleich. Wir kannten den Zeitpunkt, an dem die Schafe eine Pause brauchten. Wir planten ihn immer direkt vor der Jurte. In diesem Augenblick trennten wir mit einer Handvoll Reitern, ein älteres oder schwächeres Tier vom Rest der Herde. Wir kreisten es ein. Die anderen Reiter trieben die Schafe weiter den Hang hinauf. Hinter der nächsten Kuppe, bekamen sie vom folgenden Geschehen nichts mit. Das getrennte Tier war zu erschöpft, um zu fliehen. Es blieb stehen. Jetzt hieß es schnell zu sein. Ich sprang vom Pferd, das ein anderer übernahm. Ich packte das Schaf hinter den Ohren im Nacken und warf es zu Boden. Das Schaf rührte sich nicht, wenn es auf dem Rücken lag. Blitzschnell zückte ich Messer und Schale. Als der Geschickteste, führte ich den Schnitt entlang der Kehle. Ich schaute dem Tier dabei in die Augen. Ich dachte immer, dass das Schaf mich verwundert ansehe. Es lag auf meinen Knien. Ich spürte seine Wärme. Ich streichelte seinen Kopf. Ich redete beruhigend auf das Tier ein. Ich glaubte zu spüren, dass der sterbende Körper sich dabei entspannte. Es dauerte Minuten bis das Schaf ausgeblutet war. Sie fühlten sich wie eine quälende Ewigkeit an. Mein eigenes Leben schien in diesen Momenten still zustehen. Ich fühlte ganz klar, was wichtig war und was nicht. Nie erlebte ich etwas Intensiveres. Das Tier wurde ohnmächtig. Die schönen gelben Augen drehten zur Seite. Dann fiel der Kopf. Der Puls schlug noch. Ich streichelte das Schaf weiter und redete mit ihm. Bis es tot war. Dann schnitten die Frauen den Bauch des Tieres auf. Sie entfernten die Gedärme und die Innereien. Es war wichtig, dass kein Tropfen Blut auf den Boden fiel. Alles musste sehr schnell gehen. Der Geruch lockte Adler und Wölfe an. Blut und Innereien pressten die Frauen in Därme zu Würsten. Dann zogen sie das Fell ab. Sie zerteilten das Schaf. Die Teile hängten sie in der Jurte ab. Die Knochen kochten sie aus. Danach bekamen sie die Hunde. Fell und Leder verarbeiteten sie zu Decken, Stühlen und Musikinstrumenten. Es blieb nichts übrig. Kein Fitzelchen. Das Schlachten der Tiere empfand ich als Höhepunkte meines Lebens. Ebenso, wie die Geburt der Lämmer, im Frühsommer, nach einem langen, harten Winter. Den Tod und die Geburt. Ich spürte dabei den Kreislauf des Lebens. Ich konnte die Unendlichkeit erahnen. Ich fühlte mich, so klein und unbedeutend ich auch war, als Teil eines großen Ganzen. Ich empfand eine tiefe Dankbarkeit und Demut vor diesem Kreislauf. Ich war glücklich. […]

Der vollständige Text erscheint in einem Buch.

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