Die Frau ist glücklich und stark, sie kann ein Kind mit Behinderung großziehen!
Eva-Maria Esken ist 42 Jahre alt und hat zwei Töchter. Ihr älteres, siebenjähriges Mädchen ist mehrfach schwerbehindert. Sie möchte sie in diesem Text Sophie genannt haben. „Es ist eine wahnsinnig große Liebe. Es gibt nichts Schöneres, als wenn sie morgens ihre Augen aufmacht, mich anguckt und strahlt. Ich kann von ihrem Gesicht ablesen: Mama! Oder wenn sie mich streichelt. Sie ist so ein Sonnenschein!“, erzählt Eva-Maria Esken.

„Ich find‘s blöd, dass uns alle fragen, ob wir es gewusst haben! Als ob wir uns sonst gegen Sophie entschieden hätten. Ich glaube an eine höhere Instanz, die sagte: Das Kind wird es gut bei uns haben!“
Sie selbst war die Jüngste von elf Kindern. Sie hatte sechs Brüder und vier Schwestern. Die Eltern waren katholisch und verhüteten aus religiösen Gründen nicht. Sie wurde in Adelsberg, in Bayern geboren. „Es ist ein 1000 Einwohnerdorf, mitten im Berg und der Main fließt hindurch. Es ist sehr idyllisch und echt schön“, sagt sie. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Hamburg.
Sophie hat den sehr seltenen Gendefekt STXPB1. Es gibt nur ganz wenige, medizinische Veröffentlichungen und weltweit existieren nur ein paar Fälle. Es handelt sich um eine körperliche und geistige Behinderung, die mit Epilepsie einhergeht. Der Gendefekt ist seit 2013 bekannt. Sophie wurde 2011 geboren und ein Labor in Tübingen war neun Monate damit beschäftig, ihr Material auszuwerten. Es gibt es keine Heilungsmöglichkeiten. Es handelt sich um eine Spontanmutation, die jeden treffen kann. „Ich war bereits entlassen und wartete mit unserem Baby auf dem Arm auf meinen Mann, der das Auto holte“, erinnert sich Eva-Maria Esken. „Plötzlich hörte Sophie auf zu atmen. Ich bekam einen Schock. Die Ärzte wussten nicht, was los war.“ Im Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE) machten sie eine Kernspintomographie des Gehirns. Sie war unauffällig. Dennoch verschlechterte sich Sophies Zustand immer weiter. Schließlich wurde sie nach Göttingen verlegt.
Der Alltag der Eltern veränderte sich radikal. Ebenso wie die Beziehung des Paares. Eva-Maria Esken hatte das Gefühl, ihr Mann könne schlechter mit der Situation umgehen, als sie selbst. Manchmal denkt sie, das liege an ihrem katholischen Glauben. Außerdem arbeitete er den ganzen Tag, während sie zehn Stunden auf der Intensivstation verbrachte. Am Wochenende spürte sie seine ganze Verzweiflung.
Ihre jüngere Tochter Marie ist vier Jahre alt und vollkommen gesund. „Für unser zweites Kind ließen wir uns in der Humangenetik testen und beraten. Außerdem wussten wir, was Sophie hat. Die Chancen standen gut, ein gesundes zweites Kind zu bekommen!“, erklärt Eva-Maria Esken. Die Schwestern lieben sich sehr. „Anfangs waren wir uns nicht so sicher, ob Marie davon profitiert, dass sie eine große Schwester hat. Aber je älter sie werden, desto enger sind sie miteinander. Ich filme sie manchmal heimlich, wenn sie zusammen auf dem Teppich liegen und eine aus vollem Herzen lacht, während die andere kichert. Das ist herrlich.“, sagt Eva-Maria Esken.
Geplant war, dass sie nach der Geburt ihrer ersten Tochter wieder arbeitet. Doch da diese mehrfach schwerbehindert ist, kümmert sie sich jetzt um dessen Pflege.
Eva-Maria Esken spricht im Interview über die Liebe zu ihrer behinderten Tochter, ihrem zweiten gesunden Kind und ihrem Mann.
War von Anfang an klar, dass ihr gemeinsam Kinder haben wollt?
Nein! Mit Anfang 20 hätte ich nie ein Kind gewollt. Es war lange kein Thema. Ich wollte auf keinen Fall so viele Kinder, wie wir zu Hause waren (lacht)! Nach der Schule schloss ich eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin ab und anschließend im Praxismanagement. Mein Mann ist Zahnarzt. Gemeinsam führten wir viele Jahre eine Praxis. Dann wollte ich reisen. Unsere Freunde bekamen mit Mitte 20 Kinder. Doch ich war nicht bereit dafür. Mein Mann äußerte sich nie dazu. Es war keine Beziehung in der wir sagten: Ich möchte ein Kind von dir. Wir fanden die Kinder anderer eher nervig. Wir hatten einen Hund und ein Haus. Das war ein schönes Leben! Wir träumten immer davon in Hamburg zu leben. Eines Tages erfüllten wir uns diesen Wunsch, verkauften unsere Praxis und das Haus in Bayern. Als mein Mann nach Sophies Geburt ein zweites Kind wollte, überraschte mich das.
Machte einer einen Heiratsantrag und falls ja, wie?
Wir waren ganz lange zusammen, als mein damaliger Freund plötzlich verletzt auf der Intensivstation lag. Es war klar, wenn ihm etwas zustößt, entscheiden seine Eltern. Das gab den Auslöser zu heiraten.
Was habt ihr zur Erfüllung eures Kinderwunsches auf euch genommen? Zwischendrin gab es eine Phase, als es bei meiner Freundin nicht klappte, da fragte ich mich, ob ich damit leben könnte? Ich beantwortete sie mit: ja. Ich habe so viele Interessen…
Wie beeinflussten die Geburten eure Liebe?
Jetzt denke ich, ein Leben ohne Kinder würde gar keinen Sinn machen (lacht). Aber wenn man es nicht anders kennt… Ich vermisse das Reisen nach wie vor! Ich sage NICHT, das brauche ich mit Kindern nicht mehr.

„Es wird immer weh tun, dass mein Lebenstraum geplatzt ist! Aber anstatt dies zu beweinen und einem gesunden Kind hinterher zu trauern, ist es besser, mich mit meinem behinderten Kind anzufreunden und die schönen Seiten zu sehen!“
Gibt es Vermutungen, wie es zu Sophies Behinderung kam?
Nein! Häufig ist es so, dass einer der Elternteile oder auch beide, Träger eines Gendefektes sind und diesen selbst nicht haben. Das Kind bekommt dann eine Behinderung, weil man sich normalerweise nicht testen lässt, bevor man schwanger wird. So sind viele Behinderungen zu erklären, aber bei uns war es nicht so.
Wie war es direkt nach Sophies Geburt?
Ich wollte niemanden sehen. Ich war tagsüber im Krankenhaus. Nachts pumpte ich Milch ab, damit Sophie sie am nächsten Tag trinken konnte. Das war wochenlang mein Rhythmus. Ich hatte keine Hilfe, meine Mutter war total überfordert. Sie verlor ihr siebtes Kind, als es ein halbes Jahr alt war…
Was war das Schlimmste?
Wenn die Ärzte Sophie einen Zugang legten. Sie war so zerstochen, dass es irgendwann nur noch im Kopf ging. Sie schrie und ich musste sie festhalten. Ich konnte es kaum aushalten und hätte am liebsten gebrüllt: „Lasst sie doch einfach in Ruhe“. Sie hatte Blitz-Nick-Salaam-Anfälle, das sind sogenannte BNS-Anfälle. Es handelt sich um epileptische Anfälle, die das Gehirn der Kinder schädigen, sodass sie kognitiv nichts mehr lernen können. Davor hatten wir am meisten Angst. Es war schwierig, Sophie medikamentös einzustellen. So war sie altersgemäß in der Lage Blickkontakt aufzubauen und nach den Anfällen ging nichts mehr… Sie bekam ein starkes Narkosemittel. Vorher krampfte sie ohne Ende, schlief kaum noch…
Machten euch die Ärzte Hoffnungen?
Nee! Es gab einen Professor der sagte: Sophie ist geistig und körperlich behindert, sie wird nie laufen können. Da brach für mich eine Welt zusammen. Irgendwann kam der Moment, als ich dachte, falls jetzt eine Fee käme und mich fragte, ob ich mir wünsche, dass sie laufen oder sprechen kann, sage ich: sprechen! Damit man sie besser verstehen kann.
Sprechen ist aber an die geistige Behinderung gekoppelt?
Ja, ich wünsche mir, dass sie einen Weg findet, um mit anderen zu kommunizieren. Ich verstehe sie blind (weint). Aber wenn ich nicht mehr bin, wird sie an Menschen geraten, die sie nicht so verstehen können oder wollen…
Ihr könnt euch nur über den Blickkontakt komplett verständigen?
Ja und nicht nur das. Sie schmatzt, wenn sie Hunger hat. Wenn sie etwas nicht mag, macht sie den Mund zu. Wenn sie Durst hat, leckt sie sich die Lippen. Wenn sie müde ist, dreht sie sich weg. Wenn ihr etwas zu viel ist, meckert sie und macht äh, äh…
Kann das noch jemand verstehen?
Ich habe zu Sophie eine ganz andere Verbindung als mein Mann. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie schon im Bauch hatte. Mit Sicherheit auch daran, dass wir zusammen so viel durchmachten. Wenn es Sophie nicht gut geht, kann ich nicht schlafen und nicht essen. Marie und meinen Mann kann ich dann gar nicht um mich haben…
Gab es Zweifel?
Ich habe nie dran gezweifelt, dass ich dieses Kind will! Es tut mir deshalb so unendlich weh, wenn mich die Leute fragen: Habt ihr es gewusst? Es hätte nichts an unserer Entscheidung geändert. Die Menschen um uns herum sehen nur: Oh mein Gott ist das Kind eingeschränkt. Ich sehe meine Tochter nicht so. Klar, ist sie eingeschränkt. Aber ich kenne Kinder, da denke ich, wir haben noch Glück gehabt mit unserer Sophie. Sie kann sitzen, sie kann essen, sie bekommt viel mit, auch wenn sie sich nicht äußern kann. Ich nahm den Ärzten und Therapeuten immer richtig übel, wenn sie mir vorhielten, was mein Kind alles nicht kann. Ich sah schon immer, was mein Kind kann. Wenn Sophie die Finger aneinander nimmt, ist das ein Fest. Dann könnte ich Freudensprünge machen (weint). Sie macht immer noch stetig kleine Fortschritte. Es gibt auch immer wieder Rückschritte. Teilweise bleibt es dann dabei. Es gibt nicht mehr so viele Fortschritte wie noch vor zwei Jahren…
Sind eure Töchter Geschenke Gottes?
Manchmal denke ich, dass ich Sophie bekam, weil jemand wusste, dass sie es gut bei uns hat. Als ob jemand sagte: Eva kann das bewältigen, sie kann ein behindertes Kind bekommen. Bei ihr ist Sophie gut aufgehoben
Wer oder was half?
Ich erhielt am Anfang eine Karte einer Mutter, die auch ein behindertes Kind hat. Darauf stand die Geschichte von Emily Perl Kingsley. Sie hat ein Kind mit Down Syndrom. In Die Reise nach Holland schreibt sie, wie es ist, mit einem behinderten Kind zu leben. Sie vergleicht sei mit einer Reise. Alle wollen nach Italien. Wegen der Dolce Vita, des schönen Wetters, des Meeres… Sie bereiten sich mit Reiseführern und Sprachkursen darauf vor. Nach Monaten des Wartens geht es endlich los. Alle steigen in das Flugzeug. Nach ein paar Stunden landet es und die Stewardessen sagen: Willkommen in Holland! Du fragst dich: wieso Holland? Ich wollte doch nach Italien! Die Stewardessen sagen: Nee, es gab eine Planänderung, du musst jetzt hier bleiben. Du überlegst, ok, Holland ist kein Land, das dich in große Nöte bringt. Es gibt auch schöne Seiten. Du wirst nie in Italien sein, wo alle hinwollen. Das wird dir immer weh tun, weil dein Lebenstraum geplatzt ist. Aber anstatt dies dein Leben lang zu beweinen, ist es besser, neue Reiseführer zu kaufen und eine andere Sprache zu lernen. Und irgendwann siehst du, wie schön Holland ist: Es gibt Tulpen und Windräder, Gemälde und Museen. Immer wenn ich geknickt war, dachte ich daran.
Was hoffst du für Sophies Schulzeit?
Dass sie weiter gerne zur Schule geht.
Wie lange wird sie zur Schule gehen?
Bis sie 18 Jahre alt ist.
Hat Sophie eine unbeschwerte Kindheit?
Ja, aber einfach ist das nicht. Wenn wir rausgehen, dann nerven die Gaffer tierisch! Die, die uns anlachen oder auch die, die Fragen stellen, sind ok.
Erzwingt Marie, als nicht behindertes Kind, einen normaleren Alltag?
Ja, hat sie! Das Schöne ist natürlich, dass Marie die ganzen Entwicklungsschritte macht, die Meilensteine eines Kindes. Ich bereute zu keinem Zeitpunkt, ein zweites Kind bekommen zu haben. Am Anfang, als Marie ein Baby war, nahm Sophie keine Notiz von ihr. Aber je mehr Marie machen konnte, je mehr sie zu Sophie hingegangen ist, war sie begeistert von ihr.
Wie äußert sich das?
Wenn Sophie morgens aufwacht, wartet sie schon auf Marie. Sie lacht und freut sich, wenn sie da ist. Dann packt sie sie am Haarschopf. Marie macht dauernd irgendwelche Witze mit ihr. Sie bespaßt sie und Sophie lacht sich kaputt.
Wie funktioniert die Verständigung zwischen Sophie und Marie?
Ich glaube, irgendwann wird Marie Sophie mehr lesen können als mein Mann. Weil sie so eng miteinander sind. Sie weiß jetzt schon, was sie Sophie wann in welche Hand geben kann und was nicht. Oder sie kommt zu mir und sagt, Sophie hat in die Windel gemacht, wir müssen ihr eine neue anziehen. Sie ist manchmal wie so eine kleine Mutti. Marie will sie füttern. Und Sophie findet es toll!

„Wenn sie als Baby einen epileptischen Anfall hatte und ihr Körperchen krampfte, wusste ich nicht, ob sie da rauskommt oder drin bleibt und stirbt.“
Klappt das?
Marie macht es perfekt! Gestern waren wir beim Arzt, da hatte Sophie eine Untersuchung, bei der sie den Kopf stillhalten muss. Ich lobe Sophie immer, sie mag das gerne. Als wir wieder im Auto saßen, nahm Marie, die Hand ihrer großen Schwester und sagte: Sophie, das hast du toll gemacht! Ich sah es im Rückspiegel.
Also hilft sie immer?
Ja, das fällt auch anderen auf! Ich bekomme ganz oft gesagt, wie toll Marie zu Sophie ist. Ich hoffe das bleibt so.
Welche Befürchtungen gibt es?
In meinem Bekanntenkreis kenne ich es auch anders! Das sind allerdings Zwillinge. Das Mädchen ist nicht behindert, der Junge ist behindert. Bei Marie ist es immer noch so, dass Sophie die große Schwester ist. Auch wenn sie weiß, dass Sophie vieles nicht kann. Das sagt sie auch im Kindergarten so. Sie erzählt Sophie ist behindert und kann nicht laufen und sprechen. Aber Behinderte haben ihre Geheimsprache. Sie geht ganz offen damit um.
Gibt es Tabus?
Über die Epilepsie sprechen wir noch nicht, weil das zu komplex ist und ich sie mit vier Jahren noch zu klein dafür finde. Falls Sophie mal einen Anfall hat und Marie fragt, sage ich, dass Sophie ein Gewitter im Kopf hat.
Nutzt Marie Situationen für sich?
Natürlich! Zum Beispiel, wenn sie Süßigkeiten will, die Sophie gehören. Dann sagt sie, Sophie ist einverstanden.
Was ist noch anders?
Ich sage öfter mal zu Marie: Nee, ich kann jetzt gerade nicht. Dafür gehe ich nur mit Marie allein zum Schwimmen und zum Reiten. Ich möchte nicht, dass sie später denkt, Mama hatte nie Zeit für mich, wegen meiner behinderten Schwester. Deshalb sage ich: Ich kann im Moment nicht, bin aber gleich bei dir. Ich will nicht, dass Marie irgendwann denkt, sie musste immer Rücksicht nehmen.

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hat mich gerührt, sehr. Und ist auch wunderschön!
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für mich die emotionsvollsten und schönsten Sätze, die berühren: „…, dass ich Sophie bekam, weil jemand wusste, dass sie es gut bei uns hat. Als ob jemand sagte: Eva kann das bewältigen, sie kann ein behindertes Kind bekommen. Bei ihr ist Sophie gut aufgehoben“ – Danke für diese tolle Interview und die Kraft und Ruhe, die dieses ausstrahlt und ja ich glaube „Sophie“ ist in den besten Händen der Welt“
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Dankeschön! Ich gebe es auf jeden Fall an die Familie weiter.
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