Papageientaucher – auf der Pirsch

„Puffins“ heißen die niedlichen kleinen Vögel auf englisch. Schwarze und weiße Federn kleiden sie. Ihre roten Beine leuchten. Der orangefarbene Schnabel ähnelt dem eines Papageien. Sie finden sich überall wo es kalt ist: im Nordpolarmeer, auf Grönland sowie auf Island. Und in einem der größten Salzwasserseen der Welt: auf Cape Breton Island. Ich muss sie sehen! Letztes Jahr wollte ich ihretwegen schon nach Neufundland reisen… Wir machen eine Schiffstour mit derart hartem Wellengang, dass sich die ersten Passagiere bereits nach verlassen des Hafens übergeben. Ich habe Angst um meine Kinder und überlege kurz, ob ich lieber über Board springe und zurück schwimme. Da das Wasser eiskalt ist, vertraue ich dann doch dem Kapitän, der seit fast 50 Jahren zur See fährt. Er begleitete seinen Vater bereits mit sieben Jahren und ging ihm zur Hand. Ich verlange Schwimmwesten für meine Kleinen. Wir quälen uns rund eine dreiviertel Stunde zur Vogelinsel. Gegen die Strömung und frontal zu den Wellen. Diese überragen die Bordwand des Schiffes. Ich bereue, den Trip gebucht zu haben. Und vergesse es sofort wieder, als ich den ersten Papageientaucher tollpatschig am Boot vorbeifliegen sehe. Dann Weißkopfseeadler. Ohhhhh, ich bin verzückt und meine Kinder erst!
Der Sohn des Kapitäns erklärt einiges. Er ist 24 Jahre alt, liebt Rapmusik, Videospiele und Baseball. Er weiß noch nicht, was er mit seinen Träumen anfangen kann. Sein älterer Bruder übernimmt das Schiff seines Vaters.
Eine Deutsche stürzt auf mich zu und sagt: „Genießen sie ihre drei Kinder, so lange sie klein sind!“ Ich antworte verdattert: „Ja, danke, ich freue mich auch, sie kennen zulernen.“ Sie rollt mit den Augen und rattert dann wie ein Maschinengewehr, als sie sagt: „Ich habe meinen ältesten Sohn vor ein paar Tagen aus Montreal abgeholt. Er ist 15 Jahre alt und war dort für ein halbes Jahr auf der Highschool. Es ist so schrecklich, ich erkenne ihn nicht wieder! Die ganze Familie hat sich auf ihn gefreut! Alle zusammen fahren wir drei Wochen durch Kanada und zelten.“ Sie zuckt mit den Schultern: „Als Mutter bist du in dem Alter abgemeldet. Seien wir ehrlich, die Erziehung ist abgeschlossen. Er hat sofort gesagt, dass er auf keinen Fall mit seinen Alten zusammen in einem Zelt pennt, das sei widerlich! Jetzt schläft er im Auto…“ Sie schaut mich erwartungsfroh an. Ich antworte zögerlich: „ Äh, wenn er zufrieden damit ist, passt es doch.“ Der Sohn der Frau machte auf mich einen ganz normalen Eindruck. Ich sah ihn bereits öfter auf dem Campingplatz. Mir fiel nichts auf, außer dass er immer mit Beats auf den Ohren rumläuft. Selbst wenn er auf Toilette geht – oder gerade deshalb? Seine Mutter nickt hektisch und sagt: „Jaja, das ist alles kein Problem. Aber er erzählt mir auch nichts mehr. Ich habe ihn gefragt, ob er eine Freundin in Kanada hatte und er meinte völlig empört, dass mich das gar nichts angehe. Ich bin Ärztin und habe eine eigene Praxis. Die Freunde meines Sohnes kommen zu mir. Sie haben mir immer erzählt, wie es meinem Sohn geht. Bei mir hat er sich wochenlang nicht gemeldet. Nachts zockte er zusammen mit seinen Freunden online, bis er pleite war. Bei seiner Gastfamilie konnte er rund um die Uhr surfen. Aber zu Hause ziehe ich um 22 Uhr den Stecker des Routers, dann ist Schluss!“ Ich bin langsam genervt. Dann werde ich hellhörig, als sie sagt: „Ich habe schon so viele meiner jungen Patienten in die Klinik eingewiesen, weil sie nichts mehr auf die Reihe bekamen. Sie hatten Ängste, wollten nicht mehr leben, waren sozial isoliert. Sie konnten sich damit niemandem anvertrauen. Sie glauben gar nicht wie viele heutzutage online-süchtig sind! Alkohol ist im Vergleich dazu kein Problem. Das ist fassbar und behandelbar. Andere Drogen sind schon schwieriger, aber kann man auch in den Griff bekommen. Aber Online-Sucht ist echt gefährlich. Das ist überhaupt nicht greifbar. Und es geht nichts mehr ohne Online-Nutzung. Die jungen Leute sind somit nach einem Klinikaufenthalt sofort wieder drauf auf ihrer Droge. In einer analogen Welt kannst du heute nicht mehr leben. Da habe ich echt Angst vor.“
Ich sehe meinen Sohn begeistert aus dem Fenster schauen und mit dem Finger auf die Papageientaucher zeigen. Er ist glücklich. Er bekommt nichts um sich herum mit. Er versinkt ganz in diesem Moment. Vielleicht ziehe ich auch eines Tages den Stecker? Aber jetzt gucke ich mir die Papageientaucher an!

Und ich genieße die Rückfahrt bei Sonnenuntergang. Die Stimmung an Board ist ausgelassen. Das Meer ist glatt und friedlich, als hätte es nie Wellen gegeben…